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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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vorzuführen. »Unmöglich.«
    »Dann müssen Sie für zwei Plätze bezahlen.«
    Ihre Frisur und Sprache waren modern, doch Zhu erkannte in ihr das Erbe von Millionen kleinlicher Diktatoren, die China während der Kulturrevolution hervorgebracht hatte. Vorschriften als Knüppel, Gesetze als Waffen. »Dann bezahle ich eben für zwei Plätze.« Er griff nach seiner Brieftasche.
    Als die Stunden und die tiefe Landschaft vorüberzogen, versuchte er, alle Gedanken an Wenchuan und seine persönlichen Probleme zu verscheuchen, und beobachtete stattdessen die jungen Paare, die bei jeder Haltestelle ein- und ausstiegen. Sie sahen ganz anders aus als die bäuerlichen Menschen in seiner Jugend: Sie besaßen saubere Zähne, gute Kleidung, sogar ein wenig Schmuck, Handys und eine Aura von Lebendigkeit, als könnten sie unverzagt und voller Zuversicht in die Zukunft blicken. Er bewunderte diesen Optimismus, auch wenn die Zeitungen mit grausigen Bildern von eingestürzten Gebäuden und behelmten Arbeitern, die im Schutt nach Leichen gruben, etwas anderes erzählten. Die ganze Nation, ja vielleicht sogar die ganze Welt musste mit ansehen, wie von Tag zu Tag die Hoffnung schwand, und Xin Zhu saß in einem Zug, der zur Küste fuhr statt nach Westen, wo er zusammen mit den Freiwilligen hätte anpacken sollen. Doch wer anderen helfen will, so sagte er sich nur mit einem Anflug von Verlegenheit, muss zuerst dafür sorgen, dass er selbst nicht unter die Räder kommt.
    Als sie Jinan verließen, klingelte eins seiner Handys. »Guten Tag, Shen An-ling.« Seine Stimme klang urlaubsmäßig entspannt. »Shanghai ist herrlich.«
    »Das habe ich auch gehört, Xin Zhu«, antwortete sein Assistent. »Außerdem habe ich gehört, dass du dich seit deiner Ankunft im Hotel in deinem Zimmer eingeschlossen hast. Willst du nicht einen Blick auf die Sehenswürdigkeiten werfen?«
    Shen An-ling trug ein bisschen dick auf mit der Tarnung. Das hieß, er war nicht allein. »Ich muss über so vieles nachdenken, da würde Ablenkung nur stören.«
    »Natur, Zeit und Geduld sind die besten Ärzte.« Es war nicht gerade typisch für Shen An-ling, mit banalen Sprichwörtern um sich zu werfen. »Da lässt sich nichts beschleunigen. Du solltest lieber frische Luft schnappen.«
    »Gut, ich öffne das Fenster. Und im Büro? Läuft alles glatt?«
    »Ja. Und Yang Qing-Nian hat uns mit seinem Besuch beehrt.«
    Natürlich: Yang Qing-Nian, die rechte Hand von Wu Liang. Wer sonst hätte sich danach erkundigt, warum Xin Zhu sein Hotelzimmer nicht verließ? »Bringt er gute Nachrichten vom Aufsichts- und Verbindungsausschuss?«
    »Er bringt gute Wünsche – und die Aufforderung, dass du am Montagmorgen um neun vor dem Ausschuss erscheinst.«
    »Ich freue mich schon darauf«, erwiderte Zhu mit möglichst viel Überzeugungskraft. »Sorg bitte dafür, dass sich Yang Qing-Nian bei uns wohlfühlt. Serviere ihm unseren besten Tee.«
    Er beendete das Gespräch, das ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte, und zog aus seiner Tasche eine kleine Dose mit Reisbällchen, die seine junge Frau zubereitet hatte. Eines nach dem anderen aß er sie auf, während er sich vorstellte, wie Yang Qing-Nian in seinem Büro im Bezirk Haidian alles beschnüffelte und betatschte, um sich jede Einzelheit für seinen Bericht an Wu Liang einzuprägen. Alles ein einziger Saustall. Wie englische Buchhalter kleben sie mit der Nase an ihren Bildschirmen. Stickig, kein offenes Fenster, und es stinkt nach Zigaretten und Erdnusssoße. Da müsste mal ordentlich geputzt werden.
    Kurioserweise waren Yang Qing-Nian und sein Meister Wu Liang felsenfest davon überzeugt, dass allein schon ihr Name reichte, um Furcht und Schrecken zu verbreiten. Sie glaubten ernsthaft, dass ihn das Erscheinen von Yang Qing-Nian oder einem anderen Vertreter des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit, das unter anderem auch für den Inlandsnachrichtendienst zuständig war, völlig aus der Bahn werfen und dazu bewegen würde, sich ein ganzes Wochenende lang über einen drohenden Rüffel am Montagmorgen den Kopf zu zerbrechen. Wenn das seine einzige Sorge wäre, säße er jetzt tatsächlich in Shanghai in einer Dachgartenbar und würde einen Kognak und einen Hamlet genießen. Im Augenblick aber konnte er nur bei einer jungen, uniformierten Frau eine überteuerte Flasche Wasser kaufen.
    Kurz vor fünf fuhren sie in den Bahnhof Qingdao ein, der für die schon in wenigen Monaten anstehenden olympischen Ruderwettbewerbe renoviert worden war.

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