Die Spur der Kinder
Ihre Hände zitterten, als sie sich an die Stirn griff. »Ich konnte doch aus der Entfernung gar nicht erkennen, dass dieses Ding da keine Waffe war«, sagte sie und deutete auf die Mückenspraydose, die neben Brommer im Gras lag.
»Du hast auf ihn geschossen, weil er ein Mückenspray in der Hand hatte?«
»Verdammt, Piet, woher hätte ich das denn wissen sollen? Außerdem hat der sich von hinten an mich rangeschlichen!«, jammerte Behrendt weiter. Ihre Augen waren gerötet und gläsern vor Wut und Enttäuschung.
»Rangeschlichen, so ein Quatsch!«, ächzte Brommer unter Schmerzen von der Trage, während die Sanitäter noch immer damit beschäftigt waren, seineBlutungen zu stoppen. Hasserfüllt blickte er Behrendt an. »Sie allein sind schuld, wenn ich für den Rest meiner Tage an den Rollstuhl gefesselt bin!« Dann richtete er seinen Blick auf Karstens. »Da sehen Sie, was Ihre unfähige Kollegin angerichtet hat! Die kann nicht mal ’ne Pistole von ’nem Mückenspray unterscheiden! Einfach abgeknallt hat die mich! Aber das wird noch Folgen haben, verlassen Sie sich drauf – und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«
Behrendt hatte sichtlich Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. »Der Mann hat mich absichtlich getäuscht, um mich zu provozieren«, erklärte sie, als lege sie sich bereits ihre Rechtfertigungen gegenüber dem Dezernatsleiter zurecht.
Unschlüssig runzelte Karstens die Stirn.
»Piet, ich wollte nicht, dass das hier passiert – genauso wenig wie ich wollte, dass du vorübergehend suspendiert wirst. Es tut mir wirklich leid, ich konnte ja nicht ahnen, dass Schelling gleich so heftig reagieren würde, das musst du mir glauben.«
»Ja, sicher«, entgegnete er. Ihre nachträglichen Beteuerungen konnte sie sich sparen, dachte er, während Brommer davongetragen wurde – und mit ihm eine der wenigen heißen Spuren. »Was, wenn er uns die Sache mit dem Zoo nur aus Angst verschwiegen hat, weil er bereits verdächtigt wurde?«, murmelte Karstens.
Behrendt verzog das Gesicht. »Klar, dann war eswohl reiner Zufall, dass er ausgerechnet an dem Nachmittag im Zoo war, an dem Luna verschwand. Nee, niemals«, antwortete sie und sah Karstens skeptisch von der Seite an. »Piet, du glaubst dem doch nicht etwa? Der lügt doch wie gedruckt!«
Karstens antwortete nicht und ließ seinen Blick über die umliegenden Wälder schweifen.
Was, wenn Brommer tatsächlich die Wahrheit sagte? Was, wenn sie die ganze Zeit einer falschen Spur gefolgt waren? Womöglich hatte der Täter sie absichtlich auf eine falsche Fährte locken wollen. Und wer sagt überhaupt, dass es nur ein Täter war? Fakt ist, dass sie von Anfang an nur von einem Täter ausgegangen waren – ein weiterer Fehler?
Karstens wusste es nicht. Sehr wohl wusste er jedoch, dass Fiona Seeberg nicht ohne Grund hier rausgefahren und mit neunzig Stundenkilometern durch die Ortschaft gerast war.
»Soll ich dich mit zurücknehmen?«, bot Behrendt an. »Die Klimaanlage im Passat funktioniert wieder.«
»Nein danke, ich komm schon zurecht.«
»Kann ich sonst noch irgendwas für dich tun?«, hörte er Behrendts schlechtes Gewissen fragen.
Karstens rieb sich das Kinn. »Hast du Fiona Seeberg gesehen?«
»Die Seeberg?«, wiederholte Behrendt mit einem Anflug von Entsetzen und antwortete mit einem entschiedenen Kopfschütteln. »Warum?«
Karstenstat ihre Frage mit einem Schulterzucken ab und nickte Richtung Bungalow. »Was dagegen, wenn ich mich dort noch mal umsehe?«
Behrendt verneinte.
Ein kurzer Blick genügte Piet Karstens jedoch, um die Aussage von Hannes Jäger zu unterstreichen: Nichts in dieser Hütte schien auf ein Verbrechen, geschweige denn auf die entführten Kinder hinzudeuten. Seufzend rieb sich Karstens den angespannten Nacken, während er sich zwischen den Leuten von der Spurensicherung noch einmal umschaute. Ein alter Gaskocher. Eine Angel. Bücherregale voll Karl May. Auf einem Klappstuhl lag eine Bibel. Eine Couch diente als Schlafsofa. Der perfekte Rückzugsort, dachte Karstens und spähte erneut hinaus in den Wald. Er musste an Anne Lemper denken, die junge Frau, die vorletzte Woche nicht weit von hier tot aus dem Wasser geborgen wurde. Und an das Kreuz, das ihr in den Bauch geritzt worden war. Umso mehr beunruhigte es ihn, dass Fiona da draußen irgendwo im Nirgendwo war und er sie auf ihrem Handy nicht erreichte. Er musste sie finden, ehe die Dunkelheit hereinbrechen würde, und wenn er das gesamte Biospährenreservat nach ihr
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