Die Spur der Kinder
Kolleginnen um.
»Ich bin die Mutter des Mädchens«, erklärte Fiona knapp, »sie heißt Sophie und wurde vor zwei Jahren entführt.«
»Um Himmels willen«, flüsterte die Kellnerin und hielt sich die Wange, als habe sie Zahnschmerzen.
»Das ist ja schrecklich«, meinte sie nach einem kurzen Schweigen. Die Bestürzung in ihrer Stimme klang ehrlich.
Die Mundwinkel der Kellnerin zuckten unmerklich, als sich ihr schüchterner Blick mit dem ihrer fülligen Kollegin an der Kuchentheke kreuzte.
»Mensch, Barbara, so werden wir hier nie fertig. Hopp,hopp, du wirst an Tisch sieben gebraucht!«, befahl die Dickliche und stellte im Vorbeigehen den Apfelkuchen auf Fionas Tisch ab.
»Komme ja schon«, murrte die junge Frau und musterte Fiona noch einmal eindringlich, bevor sie zwischen den umliegenden Tischen verschwand.
Fiona nippte an ihrer Kaffeetasse, bemüht, ihre Anspannung zu verbergen. Sie ließ die junge Kellnerin, die jetzt am Nachbartisch abkassierte, keine Sekunde aus den Augen, bis ein kräftiger Mann in einem schlammgrauen Overall ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, der humpelnd das Lokal betrat. Seine Augen strahlten nichts als Kälte aus. In seiner Rechten hielt er einen Eimer mit Flieder und anderen Sträuchern, die er gegen die verdorrten Blumen von der Theke tauschte. Beiläufig stocherte Fiona in ihrem Kuchen und fragte sich, woher sie diesen Mann kannte. Dann bemerkte sie plötzlich, dass die junge Kellnerin sie verstört ansah, bevor sie mit dem Kopf unauffällig zu dem Mann an der Theke deutete und sich rasch abwandte. Momente später verließ der Mann das Lokal Richtung Parkplatz. Fiona reckte ihren Hals und spähte neugierig durch das Fenster. Sie sah, wie der Mann den Eimer zwischen allerlei Gartenwerkzeug und Säcken mit Blumenerde auf der Ladefläche seines weißen Lieferwagens deponierte. Als er die Hecktüren schloss, erbot sich ein Anblick, der ihr den Atem stocken ließ: An der linken Türhaftete ein roter Ein-Herz-für-Kinder-Aufkleber. Das Nummernschild war schlammverdreckt und unmöglich zu entziffern.
Unzählige Gedanken jagten Fiona durch den Kopf. Womöglich gab es im gesamten Land Tausende weißer Lieferwagen mit solch einem Aufkleber. Entweder war sie jetzt vollkommen hysterisch geworden – oder dies war tatsächlich der gesuchte Lieferwagen. Fiona klopfte das Herz bis zum Hals.
»Zahlen bitte!«, rief sie der nächstbesten Kellnerin zu. Und noch ehe jemand reagierte, warf sie ein paar Münzen auf den Tisch und hastete hinaus zu ihrem Wagen.
Keine halbe Minute später startete sie den Jaguar und folgte dem Lieferwagen in sicherer Entfernung.
Der Wagen beschleunigte, und Fiona hatte Mühe, ihm auf der schlaglöchrigen Straße zu folgen. Sie sah die Tachonadel kontinuierlich nach oben klettern, während sie durch kleinere Ortschaften rasten, in denen höchstens fünfzig erlaubt war. Es verstrichen weitere zehn Minuten, bevor der Lieferwagen in einen verwucherten Feldweg einbog, der geradewegs in ein Waldgebiet führte. Mit jedem Meter, den Fiona dem Fahrzeug tiefer in den Forst folgte, wuchs das Unbehagen in ihrem Bauch. Alles um sie herum schien plötzlich wie ausgestorbenund erschreckend düster, als schirmte eine Mauer aus haushohen Bäumen jegliches Sonnenlicht ab.
Fiona dachte daran, Piet Karstens anzurufen, hatte jedoch alle Hände voll zu tun, den Jaguar über den holprigen und zunehmend schlammigen Untergrund zu lenken. Zudem erschwerte der dichter werdende Nebel die Sicht.
Ehe Fiona sich’s versah, endete ihre Fahrt an einem gewaltigen Sumpfgebiet. Sie schaltete das Fernlicht ein und beugte sich nach vorne, um nach dem Lieferwagen Ausschau zu halten. Doch der schien wie vom Erdboden verschluckt. Sie ließ das Fenster herunter und atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein.
Mein Gott, dieser Wagen kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben.
Fiona legte den Rückwärtsgang ein, aber die Reifen drehten im Schlamm durch. Sie versuchte es erneut, die Reifen gruben sich jedoch nur immer tiefer ein. »So ein Mist! Das kann doch alles nicht wahr sein!« Wütend trommelte sie auf das Lenkrad. Dann bückte sie sich nach ihrem Handy in der Handtasche und tippte in der Wiederwahlliste auf Piet Karstens’ Nummer. Doch eine Verbindung wurde nicht hergestellt. Und ein Blick auf das Display bestätigte, was Fiona längst befürchtet hatte: Dieser gottverlassene Wald war ein einziges Funkloch. Den Anruf beim Abschleppdienst konntesie sich demnach ebenfalls schenken.
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