Die Spur des Verraeters
leuchtender Farben. Sano schlenderte mit Dr. Huygens über eine grasbewachsene Hügelkuppe, die golden im Sonnenlicht lag. Der Herbstwind blies bereits einen Hauch von Frost und vom Duft brennender Holzscheite über das Land. Vögel kreisten am kristallklaren, strahlend blauen Himmel und beklagten mit traurigen Rufen das Ende des Sommers. Im grünen Laubdach der Wälder waren dunkelrote, ockerfarbene und braune Flecken zu sehen. Der Barbar trug seinen schwarzen Hut und Umhang und hielt einen großen runden Korb in einer Hand. In der Nähe standen die zehn Wachsoldaten, die dazu abgestellt waren, den Arzt auf seiner offiziellen Suche nach Insekten und Heilpflanzen, die er zwei Mal im Jahr unternahm, zu eskortieren.
Dr. Huygens bückte sich, pflückte ein Kraut, das zwischen den Gräsern wuchs, und flüsterte, damit die Wachen nicht hören konnten, dass er Japanisch sprach: »Gut bei Verbrennungen.« Er lächelte Sano an und warf die Pflanze in seinen Korb.
Sano warf eine Hand voll Minze hinzu, die von japanischen Ärzten häufig verwendet wurde. »Gut bei Bauchschmerzen«, sagte er zu Huygens.
In stiller Eintracht durchkämmten die beiden Männer die Wiese nach Heilmitteln und tauschten ihr Wissen über deren Kräfte aus. Seit der Zerschlagung der Schmugglerbande im chinesischen Tempel waren fünfzehn Tage vergangen. Am Morgen darauf war Sano auf Deshima gewesen, um die überlebenden Holländer von deGraeffs Tod zu unterrichten und sich bei Dr. Huygens dafür zu entschuldigen, ihn fälschlicherweise des Mordes verdächtigt zu haben. Später hatten Sano und der oberste Richter Takeda die gesamte Wachmannschaft auf Deshima entlassen und durch vertrauenswürdige Männer ersetzt, die nach eingehenden persönlichen Gesprächen und gründlicher Überprüfung ihrer Dienstakten und ihrer charakterlichen Eigenschaften ausgewählt worden waren. Sano bedauerte den unvermeidlichen Verlust wichtiger Bindeglieder im Netzwerk der japanisch-holländischen Informanten, vermutete jedoch, dass sich rasch wieder neue Verbindungen aufbauen würden, und diesmal hoffentlich ohne Gewalt. Als seine Arbeit getan war, hatte Sano – misstrauisch geworden wegen der Anklagen auf Verrat, die man gegen ihn erhoben hatte – das Treffen mit Dr. Huygens immer wieder aufgeschoben. Bis zum heutigen Tag.
Tief unter ihnen lag die Stadt, friedlich und heiter im hellen Sonnenlicht. Die Soldaten waren aus den Straßen verschwunden, das Unheil verkündende Dröhnen der Kriegstrommeln war verstummt. Auf dem funkelnden Wasser im Hafen war ein majestätisches Schiff zu sehen, dessen Segel das Wappen der Tokugawa trugen. Das Schiff war am Tag zuvor mit einer Nachricht aus Edo eingetroffen: Als der Shogun entdeckt hatte, dass sôsakan Sano sich nicht mehr in der Hauptstadt aufhielt, hatte er die Befehle von Kammerherr Yanagisawa für ungültig erklärt und Sano befohlen, unverzüglich in die Heimat zurückzukehren. Sano, nun wieder geschützt und sicher durch die Gunst Tokugawa Tsunayoshis, hatte daraufhin beschlossen, Nagasaki noch am heutigen Tag zu verlassen – allerdings nicht, ohne seinem Barbarenfreund Huygens einen letzten Besuch abzustatten.
Dr. Huygens nahm eine Gottesanbeterin von einem Grashalm und steckte sie in ein kleines Gefäß aus Glas. »Ich werde dies Tier nach Amsterdam mitnehmen, zu zeigen meine Kollegen«, sagte er.
Durch Handbewegungen und Grimassen verdeutlichte er, wie er und Sano damals durch das Mikroskop geschaut hatten und Sano beim Anblick des Ungeheuers im Wassertropfen beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Beide Männer lachten bei der Erinnerung an diese Begegnung Sanos mit der Wissenschaft der Barbaren. Während sie weitere Pflanzen und Tiere suchten, ließ Sano den Blick zum holländischen Segler schweifen, der weit vor der Küste an der winzigen Felseninsel Takayama festgemacht hatte. Die Segel gerefft und winzig klein auf diese große Entfernung, wirkte das Schiff nun so harmlos wie ein Kinderspielzeug.
Nachdem die Schmugglerbande zerschlagen worden war, hatte Sano die Leichen von Dolmetscher Iishino und Abt Liu Yun – die Mörder von Jan Spaen und Maarten deGraeff – zu Kapitän Oss an Bord des holländischen Schiffes gebracht und damit sein Versprechen eingelöst. Oss hatte daraufhin das Schiff aus dem Hafen segeln lassen. Nur wenige Besatzungsmitglieder waren an Bord geblieben; die anderen hatten den Transport der Ladung nach Deshima begleitet, wo die holländischen Händler ihre Waren verkauft hatten. Dann hatte
Weitere Kostenlose Bücher