Die Spur des Verraeters
die neue Besatzung der Ostindischen Kompanie ihr Quartier auf der Insel bezogen. Nun wartete der holländische Segler nur noch auf günstigen Wind, um die weite Heimfahrt anzutreten.
»Bald fahren wir«, sagte Dr. Huygens. »Nach Hause.«
Nach Hause – um sein Leben wieder aufzubauen, das Jan Spaen zerstört hatte; um seine Arbeit als Arzt wieder aufzunehmen und seine Bemühungen fortzusetzen, seine Jugendsünde wieder gutzumachen. Als Sano über Huygens’ lange Seereise nachsann, musste er daran denken, wie klein sein Heimatland im Vergleich zur weiten Welt jenseits seiner Küsten war. Er erkannte, dass Japan die fremdländischen Einflüsse nicht ewig fern halten konnte, nicht durch seine Lage als Inselstaat, und erst recht nicht durch die Politik des bakufu . Andere Ausländer würden kommen – nicht bloß aus Holland, sondern aus vielen anderen Barbaren-Königreichen. Sie würden mit überlegenen Schiffen und Waffen vor Japans Küsten erscheinen, hungrig auf neue Handelsmöglichkeiten und neue Gebiete. Sano betrachtete den Shogun und die Beamten des bakufu nun nicht mehr als allgewaltige Tyrannen, sondern als kleine Männer, die Angst vor einer Zukunft hatten, auf die sie keinen uneingeschränkten Einfluss mehr besaßen. Irgendwann musste Japan seine Isolation aufgeben. Und was dann?
Sano versuchte sich den Tag vorzustellen, an dem seine Nachkommen in ferne Länder reisen konnten. Den Tag, an dem die Barbaren sich frei und ungehindert durch die Straßen japanischer Städte bewegen durften. Barbaren und Japaner würden die Sprache des jeweils anderen sprechen, würden Gedanken und Ideen miteinander teilen. Sanos abenteuerlustiger Geist war fasziniert von den Möglichkeiten, die sich dann bieten würden. Doch ebenso gut konnte er sich ausländische Kriegsschiffe vorstellen, die Japan angriffen; das Donnern von Bordgeschützen, das Land und Meer erzittern ließ; brennende Städte und den Tod von Menschen in Kriegen, die zerstörerischer waren als alle gewaltsamen Auseinandersetzungen zuvor. Sano wusste nicht, welches dieser Bilder Wirklichkeit werden würde, doch er erkannte, wie verletzlich Japan war und wie zerbrechlich die Kultur, die ihn geprägt und geformt hatte. Vielleicht würde nicht einmal der Bushido, der uralte Codex der Samurai, die Angriffe ausländischer Einflüsse überleben.
Mit einem Mal verspürte Sano eine überwältigende Liebe zu seinem gefährdeten Heimatland. Wie eine reine, klare Quelle schwemmte diese Liebe allen bitteren Hass davon, den die vor kurzem durchlittenen Ängste und Qualen in Sano hatten entstehen lassen. Und indem er die Gefahr für seine Heimat und deren Kultur erkannte, erstand in seinem Inneren wieder der Wille, sich dem Bushido zu unterwerfen und ein Leben als Samurai zu führen, der bereit war, seinen Herrn um den Preis des eigenen Lebens zu beschützen – und darüber hinaus sein Heimatland, sein Volk, seine Kultur, seine Lebensweise. Sano fühlte sich stark und glücklich, als wäre er von einer langen Krankheit genesen. Die Zukunft erschien ihm wieder voller Verheißungen, voller Versprechen.
Bald darauf hatte Dr. Huygens seinen Korb gefüllt; im Hafen wartete Sanos Schiff. Von den Wachsoldaten wurden beide Männer den Hügel hinunter und durch die Stadt geleitet. Am Wachhaus vor der Brücke nach Deshima sagten sie sich Lebewohl.
»Ich wünsche Euch eine sichere Heimreise und ein glückliches Leben in Gesundheit und Wohlstand«, sagte Sano und verbeugte sich.
»Auch Euch eine glückliche Reise. Alles Gute, mein Freund.« Der Arzt streckte die Hände aus. Zuerst begriff Sano diese ihm unbekannte Geste nicht; dann nahm er Huygens’ Hände in die seinen und gelobte ihm nach Art der Barbaren ewige Freundschaft. Und es schien ihm, als wünschten sie sich durch diesen Abschied nicht nur einander alles Gute, sondern auch ihren Heimatländern eine glückliche Reise in eine Zukunft, die von gegenseitigem Nutzen und Wohlwollen geprägt war.
Sano ging über die Hafenpromenade zu den Anlegestellen. Hirata und die Besatzung waren bereits an Bord, ebenso sämtliches Gepäck sowie die Nahrungsmittel und Getränke für die Reise. Am Kai wartete ein Fährboot, um Sano zum Schiff überzusetzen. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, um die Abfahrt des japanischen Seglers zu beobachten. Plötzlich trat zwischen den Fischern, gemeinen Bürgern und Samurai ein seltsames Trio hervor und näherte sich Sano: Junko, strahlend in einem roten und weißen Kimono, ihr Vater Urabe und
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