Die Spur des Verraeters
Waffe so zu drehen, dass er den Flintstein aus dem Schlagbolzen ziehen konnte, doch Iishino trat ihm seine knochigen Knie in den Leib, sodass Sano ein Stück zur Seite rutschte, um seinen Unterleib zu schützen. Die Gegner wälzten sich über den Boden; mal lag Sano oben, mal Iishino. Ihre Gesichter waren einander so nahe, dass sie sich fast berührten; der Lauf der Waffe war zwischen Sanos und Iishinos Kinn förmlich eingeklemmt. Sano vergaß sein wildes Verlangen, diesen Mörder, Dieb und Verräter vor Gericht und zum Tode verurteilt zu sehen. Wollte er mit dem Leben davonkommen, musste er Iishino selbst töten.
Mit Wucht prallten die Männer gegen eine weitere Säule. Sano mobilisierte all seine Kraft und zog an der Waffe, wobei er Iishino ein Stück mit in die Höhe hob. Dann stieß er den Gegner so heftig zurück, dass dieser mit dem Hinterkopf auf den steinernen Boden prallte. Iishinos Griff um die Waffe lockerte sich, und Sano hämmerte ihm den Lauf unters Kinn. Diesmal lag Sanos Finger am gekrümmten metallenen Abzug der Pistole. Er drückte ab.
Die Welt explodierte. Durch den Rückstoß prallte die Waffe mit erstaunlicher Wucht gegen Sanos Brust. Die Detonation ließ ihm die Ohren klingeln; beißender Pulverrauch füllte seine Lungen. Sein Gesicht war von warmem, feuchtem Blut bedeckt, das ihm in die Augen rann und sein Gesichtsfeld rötete. Er hatte nicht Iishino getroffen, sondern sich selbst …! Jeden Augenblick rechnete er damit, dass der Schmerz wie ein wildes Tier über ihn herfiel, als er sich stöhnend vom Körper Iishinos hinunterwälzte. Während er mit beiden Händen hektisch sein Gesicht nach einer Wunde abtastete, überkamen ihn Schwäche und Schwindelgefühl. Er starb …
Plötzlich fühlte er eine Hand auf der Schulter und hörte Hiratas Stimme: »Euch ist nichts geschehen, sôsakan-sama . Iishino ist tot, ebenso Nirin und die Wachen. Wir haben es überstanden. Es ist vorbei.«
Als Sano diese Worte hörte, verwandelte sein Stöhnen sich in ein übermütiges Lachen der Erleichterung. Er war nicht getroffen. Er würde leben. Er hatte gesiegt. Dann warf er einen Blick auf Iishino, und das Lachen blieb ihm im Halse stecken.
Der Dolmetscher lag regungslos auf dem Rücken; seine Hände hielten immer noch die Waffe umklammert. Links unter Iishinos Kiefer, wo die Kugel eingetreten war, klaffte ein Loch in seinem Hals. Blut hatte seine Kleidung durchtränkt, war über die Pistole gespritzt, über seine Hände, auf den Fußboden – und auf Sano. Wie vor Erstaunen klaffte Iishinos Mund weit auf; die Augen waren in einem Ausdruck des Entsetzens aus den Höhlen getreten. Die Kugel hatte seinen Schädel durchschlagen und war in einer Fontäne aus weißen Knochensplittern, Blut und breiiger, gräulicher Hirnmasse aus der Schädeldecke ausgetreten.
Der oberste Richter Takeda trat neben Sano. »Ich werde einen Bericht über die Ereignisse des heutigen Tages nach Edo schicken«, sagte er, »und darin erwähnen, dass das Tribunal Euch und Euren Gefolgsmann in sämtlichen Anklagepunkten für unschuldig befindet.« Die beiden anderen Richter bekundeten murmelnd ihre Zustimmung. »Überdies sollt Ihr eine Belohnung für Euren heldenhaften Kampf gegen diese Verräter erhalten, die die Herrschaft des Shogun untergraben wollten.«
Heldenhafter Kampf? Takedas Worte klangen wie misstönende Musik in Sanos Ohren. Langsam erhob er sich und ließ den Blick über die einundzwanzig Toten schweifen. Hatte er, Sano Ichirō, in dieser Nacht der Gerechtigkeit gedient – oder dem Eigennutz? Hatte er für Japan und die Herrschaft des Shogun gekämpft – die er beide hassen gelernt hatte –, oder für seinen eigenen Ehrencodex als Samurai? Anstelle von Triumph spürte Sano lediglich das Blut Iishinos auf der Haut, hatte den metallisch-salzigen Geschmack auf der Zunge. Hatte er Gerechtigkeit gesucht, oder Rache an seinen Feinden? Hatte er selbstsüchtig andere Menschen – Pfingstrose, Ohira und Alter Karpfen – seinen eigenen Grundsätzen geopfert, um sein Verlangen nach Abenteuern zu befriedigen und vor sich selbst den Beweis moralischer Überlegenheit zu erbringen, wie er es schon einmal getan hatte – damals, bei Aoi, der Frau, die er immer lieben würde? Wie konnte er weitermachen, ohne die Wahrheit über sich selbst zu wissen?
»Kommt, sôsakan-sama .« Hirata ergriff Sanos Arm. »Sehen wir zu, dass wir hier herauskommen.«
35.
D
er achte Monat war gekommen und brachte kalte Nächte und klare Tage voller
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