Die Spur des Verraeters
Veranda. Die plötzliche Stille wurde von den Gesängen der Grillen und Frösche gefüllt. »Takeda-san«, sagte Sano, »Ihr, zwei von Euren Gefolgsleuten und ich werden die Tür stürmen. Hirata – du gehst mit den anderen beiden Gefolgsmännern des obersten Richters um die Gebetshalle herum bis zum Vordereingang. Schaltet den Wachposten vor der Veranda aus, und wartet, bis ihr mich hört. Dann kommt in die Halle.«
Hirata und die Männer huschten in die Dunkelheit davon. »Was ist mit uns?«, fragte Richter Segawa, der neben Dazai am Boden kauerte. »Wir wollen nicht in diese Halle.« Er wies auf Kommandant Ohira. »Und was ist mit ihm?«
Sano traf eine rasche Entscheidung. »Ihr bleibt hier.« Er hatte keine Zeit, die drei Männer zu verteidigen, wenn sie in Bedrängnis gerieten; außerdem hatte er immer noch die Befürchtung, Ohira könnte ihren Angriff irgendwie vereiteln. »Bleibt mit Kommandant Ohira zusammen. Wartet hier, und verhaltet euch ruhig.«
»Wie sollen wir an dem Wachposten auf der Veranda vorbeikommen?«, fragte Takeda.
Sano hob ein Felsstück auf und schleuderte es durch die Dunkelheit zur rechten Seite der Halle. Der Schmerz in seiner Schulter ließ ihn leise aufstöhnen. Klappernd prallte das Felsstück zu Boden. Es war die älteste List, die es gab, aber sie hatte Erfolg. Der Wachposten fuhr in Richtung des Geräusches herum und bewegte sich dann nach rechts, um nachzuschauen. Sano huschte aus dem Versteck hinter dem Pavillon und eilte dem Mann hinterher.
Er sah den Posten in einem Garten stehen und lauschen. Der Mann hatte Sano den Rücken zugekehrt. Sano schlich sich von hinten an ihn heran; dann schlug er ihm mit aller Kraft beide Handflächen auf die Ohren. Der Mann schwankte und brach zusammen. Sano öffnete den Knoten der Schärpe des Bewusstlosen und zerriss sie in drei Stücke, mit denen er den Wachposten fesselte und knebelte. Sano hoffte, dass Hirata mit dem Posten auf der Vorderseite der Halle ebenso viel Glück hatte. Er kehrte zu Takeda und den anderen zurück.
»Gehen wir.«
Sano überquerte die freie Fläche vor der Gebetshalle, wobei er nach weiteren Wachposten Ausschau hielt. Dann stieg er die Treppe zur Veranda hinauf, so leise er konnte. Auf der Veranda gesellten die anderen Männer sich zu ihm. Vorsichtig öffneten sie die schwere Tür einen Spalt weit und spähten hindurch.
Im leeren Inneren der riesigen Halle hingen Laternen von der kassettierten Decke. Ihr rauchiges goldenes Licht fiel auf Säulen, die mit roten Lackarbeiten verziert waren, auf Statuen finster dreinblickender Wachgötter und auf Wandgemälde in leuchtenden Farben; sie zeigten wunderschöne chinesische Landschaften mit Palästen, Seen und Wäldern. Auf dem Altar, von brennenden Kerzen erhellt, saß ein vielarmiger Buddha auf einem Thron, umgeben von vergoldeten, geschnitzten Flammen und heiligem Lotus. Zwölf Samurai, die Sano als Wachsoldaten von Deshima wiedererkannte, stemmten die Deckel von vier Kisten auf. Die zehn unbewaffneten Männer hatten ihre Hüte und Umhänge abgelegt, sodass ihre kahl geschorenen Köpfe und die tätowierten Arme und Beine zu sehen waren, die sie als Verbrecher kennzeichneten.
Nirin nahm verschiedene Gegenstände aus den Kisten, dass die Halunken sie sich anschauen konnten. »Gewürze. Seide. Heilmittel.«
Sano glaubte nicht, dass Nirin den Schmugglerring anführte, wenngleich er eine Aura der Autorität ausstrahlte. Er sah zwei Männer, die mit dem Rücken zur Tür standen und zum Teil von der Statue eines bewaffneten Kriegers verdeckt wurden. Einer dieser beiden Männer trug den schwarzen Hut der Holländer; der andere einen gewöhnlichen japanischen Strohhut. Dreht euch um !, drängte Sano die Männer in Gedanken. Er wusste, dass einer der Barbaren Dr. Huygens war; er wusste es einfach. Wer aber war der andere Mann? Abt Liu Yun?
Eine schmächtige Gestalt in einem safrangelben Umhang und mit einem Schal aus Brokat kam aus einer Nische an der Seite der Halle. Die Hände in die geblümten Ärmel seines Umhangs geschoben, beobachtete Liu Yun schweigend den Holländer.
Vielleicht war Urabe der andere Mann, der Japaner – jener Mann, den Hirata mit den Verbrechern in Verbindung gebracht hatte. Oder war es Statthalter Nagai, der seinen Untergebenen beim Verkauf der Beute nicht traute? Doch dass Huygens sich in der Halle aufhielt, ließ eine Ahnung in Sano aufsteigen, wer der Japaner war.
»In Ordnung, wir haben genug gesehen«, sagte der Anführer der Verbrecher zu
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