Die Spur des Verraeters
wieder wichen die Gefährten patrouillierenden Soldaten aus. Stetig führte der Weg bergan. Sie gelangten aus der Stadt hinaus und in die Wälder. Sanos Furcht wich gespannter Aufregung, als er sich an die erfolgreiche Jagd nach den Leichendieben erinnerte.
Doch die Zeit verrann, und Ohira erschien immer noch nicht. Sanos Besorgnis erwachte wieder. Die Richter Segawa und Dazai murmelten verärgert vor sich hin, während die Gefolgsleute näher an Sano und Hirata heranrückten. Sano konnte die Ungeduld Takedas spüren und sah, dass seine eigenen Zweifel sich in Hiratas Miene spiegelten. Grässliche Bilder erstanden vor seinem inneren Auge: ein Todesmarsch zum Hinrichtungsplatz; er und Hirata, wie sie vor dem Schwert des Scharfrichters niederknieten; Soldaten, welche die Verwandten und Freunde zusammentrieben, um sie ebenfalls dem Henker zu übergeben …
»Wir warten noch ein klein wenig, dann gehen wir zurück«, sagte der oberste Richter Takeda.
Die Kriegstrommeln dröhnten. Rauch von den Lagerfeuern wurde vom Wind herangetragen. Plötzlich nahmen Sanos geschulte Sinne eine winzige Veränderung der Atmosphäre wahr. Auch seine Gefährten blickten sich unruhig um, spürten die Anwesenheit von irgendetwas Unsichtbarem. Ohne das leiseste Geräusch zu machen, erschien Kommandant Ohira auf der Lichtung. Das Mondlicht hob die geisterhafte Blässe seines Gesichts noch stärker hervor. Seine Augen blickten ausdruckslos: Teiche der Finsternis, gefüllt mit der Schwärze der Nacht.
»Kommt«, sagte er.
Er drehte sich um und ging durch den Wald davon. Sano beeilte sich, zur beinahe unsichtbaren Gestalt Ohiras aufzuschließen. Es kam ihm so vor, als würde er einem Gespenst in eine finstere Hölle folgen. Eine primitive, instinktive Furcht breitete sich in ihm aus. Bei den Gedanken an Dämonen und Ungeheuern war er froh, Hirata an seiner Seite zu wissen. Immer wieder verschwand Ohira für Augenblicke in den Schatten, um dann erneut zu erscheinen, während er die anderen über Waldpfade führte, die so schmal und gewunden waren, dass nur ein Eingeweihter von diesen Wegen wissen konnte.
Es ging steile Pfade hinauf und hinter den silbern schimmernden Vorhängen von Wasserfällen entlang. Wachtürme ragten über den Gefährten empor. Die Flammen der Lagerfeuer loderten näher, heller. Mit zunehmender Höhe wurde die Luft dünner und kälter, und der Wind wehte schärfer. Sanos Beine brannten vor Müdigkeit; seine Schulter schmerzte, und er rang nach Atem. Immer weiter kämpften sie sich durch die Finsternis.
»Ein Marsch ins Nichts, von einem Narren angeführt«, murmelte Richter Segawa. »Wartet nur, bis Kammerherr Yanagisawa von dieser Sache erfährt!«
Plötzlich gelangten sie auf eine freie Straße. Eine hohe steinerne Mauer ragte in den Nachthimmel. Über den reich verzierten Flügeln eines Tores wanden sich geschnitzte Drachen. Ohira führte die Gruppe durch dieses Tor und hinein in eine andere Welt.
Hier war der Wald gerodet und der Boden geebnet worden, sodass ein großer Platz unter freiem Himmel entstanden war. Zierbäume säumten Kieswege; Blumenbeete umrahmten Felsengärten; Frösche quakten in einem schimmernden Teich. In Ehrfurcht gebietender Erhabenheit boten sich Gebetshallen, Pavillons, hohe steinerne Laternen und eine große Glocke in einem reich verzierten Holzturm den Blicken Sanos dar. Auf Dächern, an Wänden und Säulen waren grinsende, geschnitzte Dämonen zu sehen; ihre Farben waren im bleichen Mondlicht lediglich unterschiedliche Grautöne. Die Pagode erhob sich wie ein aus Stein gehauener Schatten über dem chinesischen Tempel von Nagasaki – heiliger Boden, über den einst Tausende von Priestern gewandelt waren. Heute jedoch war dieser Tempel der Unterschlupf von Abt Liu Yun und dem Schmugglerring.
»Ich sehe nirgends ein Licht«, sagte Richter Segawa. »Die Anlage sieht verlassen aus. Sollten wir diesen Unsinn nicht endlich aufgeben, Takeda-san?«
Doch Kommandant Ohira ging bereits über einen Pfad, der durch den Tempelbezirk führte. »Still«, warnte Sano die Gefährten; dann eilten er und Hirata dem Kommandanten hinterher, gefolgt von den anderen. Als Ohira plötzlich Deckung hinter einem Baum suchte, tat Sano es ihm sofort gleich und bedeutete den anderen, sich ebenfalls zu verstecken.
Vor ihnen erhob sich die Hauptgebetshalle, über deren Eingang ein brüllender Löwe prangte; die gewaltigen Giebel und Dachvorsprünge des Bauwerks waren wie Dämonenflügel nach oben geschwungen, und
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