Die Staatskanzlei - Kriminalroman
schob Eile vor. Eine flüchtige Umarmung zum Abschied und weg war sein Freund. Normalerweise hätte Wagner sich mit den merkwürdigen Andeutungen nicht abgefunden und ihn ohne eine plausible Erklärung nicht gehen lassen. Jetzt aber war er übermüdet und durcheinander. Die Ereignisse der letzten Wochen forderten ihren Tribut. Außerdem befand sich sein Gefühlsleben im Ausnahmezustand. Er musste ständig an Monika denken, alles andere rückte in den Hintergrund.
Nach zwei Stunden Schlaf war es für den Pressesprecher im rasanten Tempo weitergegangen. Um sechs Uhr stand das erste Interview des Innenministers beim Frühstücksfernsehen an, weitere Interviews mit Privatsendern folgten. Krause verkaufte sich gut. Den obersten Ordnungshüter und kompetenten Polizeiminister nahm ihm jeder ab. Geschickt nutzte er die Gelegenheit, um für seine konservativ geprägte Innenpolitik zu werben. Ein Plädoyer für den konsequenten Ausbau geschlossener Anstalten wurde eingeflochten, garniert mit Kritik an der Opposition. Die hatte solche Pläne stets abgelehnt. Worte wie blauäugig und verantwortungslos fielen.
Nur einmal, als die Redakteurin vom niedersächsischen Fernsehen im Zusammenhang mit der schwer verletzten Britta König den Selbstmord von Gregor Mahow ins Spiel brachte und wissen wollte, ob es einen Zusammenhang mit den Staatskanzleimorden gab, verlor der Minister kurzzeitig die Fassung. Er fing sich allerdings schnell wieder. Der bedauerliche Selbstmord des eifersüchtigen Gewalttäters hätte mit den Staatskanzleimorden nicht das Geringste zu tun, versicherte der Politiker.
Später, im gepanzerten Dienstwagen, führte der Minister hektische Telefonate, denen Wagner entnahm, dass es Verbindungen zwischen dem russischen Großinvestor Milner und Gregor Mahow gab. Wagner fragte sich, ob es vielleicht doch kein Zufall war, dass seine Kollegin Britta König nach ihrer Dienstreise nach Berlin zusammengeschlagen worden war. In der Hektik des Medienrummels kam er jedoch nicht mehr dazu, den im Dauerintervieweinsatz befindlichen Innenminister darauf anzusprechen. Außerdem wollte er seine Dienstgeschäfte endlich hinter sich bringen und zu seinen Eltern fahren. Nach den turbulenten Wochen hatte er sich ein ruhiges Weihnachtsfest verdient.
Der IC würde um 15.22 Uhr in Wilhelmshaven ankommen. Seine Eltern würden ihn wie jedes Jahr am Bahnhof erwarten. Seine Mutter würde vor Freude einige Tränen vergießen und sein Vater ihm mit den Worten „Gut, dass du da bist, mein Junge“ auf die Schultern klopfen. Für einige Tage würde er die Politik hinter sich lassen und nur noch Sohn sein.
In ihrem behaglichen Backsteinhaus mit dem tief heruntergezogenen Dach angekommen, würden sie Friesentee mit Kandis und Sahne trinken. Dazu würde es selbst gebackene Friesentorte geben. In ihren Gesprächen würde es nicht um Politik gehen. Seine Eltern waren überzeugte Nichtwähler. Fragen des täglichen Lebens in der Provinzstadt in der äußerten Ecke Deutschlands würden ihre Unterhaltung bestimmen: Deichschutz, der Hafenausbau und der rückläufige Fischfang. Auch der Klatsch würde nicht zu kurz kommen. Belangloses Zeugs, aber irgendwie unterhaltsam und wohltuend anders als der Politikbetrieb. Das Gefühl, in einer vermeintlich heilen Welt zu leben, würde ihm guttun.
Wagner war kein Narr. Ihm war sehr wohl bewusst, dass es längst auch hinter der Fassade der ländlichen Provinzstädte bröckelte. Die Alterung der Bevölkerung, die wachsende Kluft zwischen wohlhabenden Bürgervierteln und Wohnquartieren mit hohem Anteil an Arbeitslosen und Migranten, die zunehmende Kriminalität und die Überschuldung der kommunalen Haushalte, diese und andere Probleme hatten längst auch die Klein- und Mittelstädte in Deutschland erreicht. Doch daran wollte er jetzt nicht denken. Er würde die wenigen Tage nutzen, um aufzutanken. Während er aus dem Fenster schaute und die weiß gepuderte norddeutsche Tiefebene an sich vorbeiziehen ließ, malte er sich in Gedanken seine Zukunft mit Monika aus.
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O SNABRÜCK
Verena sah dem Weihnachtsfest mit gemischten Gefühlen entgegen. Auch wenn die Staatskanzleimorde aufgeklärt waren, war ein ungutes Gefühl zurückgeblieben. Maria Schneider tat ihr leid. Sie lebte in einer Welt, zu der normale Menschen keinen Zugang hatten. So wie es aussah, würde sie die geschlossene Anstalt für lange Zeit nicht mehr verlassen, vielleicht sogar nie wieder.
Für ihren Geschmack hatte der Fall zu viele Fragen offen
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