Die Stadt am Ende der Zeit
Ruß an den Türverrieglungen geritzt. Also stimmte es: Chandler und seine Gefährtin, die Brandstifterin, waren in der Stadt.
Während er sich nach Osten wandte, blieb Glaucous mehrmals stehen, um sich die Hausnummern anzusehen, bis er schließlich den Eingang zum Gold Rush Residential Hotel vor sich hatte. Hier hielt er an, stieß die Tür mit seinem Stock auf und atmete leise und nachdenklich seufzend aus. Hinter der schweren Glastür, eingeklemmt zwischen einem orientalischen Antiquitätengeschäft und einem leer stehenden Secondhandladen, verströmte die schmale, kaffeebraune Lobby des Hotels angestaubte Gastlichkeit. Die schmucklosen Wände waren mit dicken Farbschichten überzogen, die – verdreckt und voller Risse – auch über den Gipsverkleidungen lagen. Das zerschlissene Mobiliar, zwei eckige braune Sofas und ein alter Sessel, gruppierte sich um einen schwarzen Tisch, auf dem Zigaretten Brandnarben hinterlassen hatten. Auf dem Tisch lagen Stapel von The Stranger und The Seattle Weekly , deren Umschnürungen aufgeschnitten waren und herunterbaumelten.
Ein Angestellter mittleren Alters bequemte sich schließlich aus seiner Klause hinter der Rezeption und musterte Glaucous, der ihm so freundlich zunickte, als wären sie alte Bekannte. »Ist bei Ihnen ein Mann namens Chandler abgestiegen?«, fragte er. »Ich glaube, er erwartet mich.«
»Nehmen Sie das Haustelefon oder gehen Sie einfach hoch«, erwiderte der Angestellte mürrisch.
London – für alle mittellosen Grünschnäbel ein Nest voller Dornen – hatte den kleinen Max schnell geprägt und in einen stämmigen Burschen mit argwöhnischem Blick verwandelt, der ebenso ordinär wie hässlich war. Also wurde auf ihm herumgetreten. Nach dem Tod des Vogelfängers entpuppte sich der Zwölfjährige, der nun erneut auf der Straße saß, als geschickt
im Münzwurf und im Kartenspiel. Der Hunger und seine Unerfahrenheit verwickelten ihn in Straßenkämpfe, bei denen er sich Verletzungen an den Fingerknöcheln, Schwellungen am Ohr und drei Nasenbrüche zuzog. Der Krawall in einem Varietétheater, bei dem er unsanft eine Steintreppe hinunterkullerte, gab seinem Bulldoggenkörper den Rest, so dass sein Wachstum bei knapp einem Meter dreiundsechzig zum Stillstand kam. Dass sich nur wenige Menschen mit einem derart finsteren Grobian anlegen wollten, kam ihm bei der Arbeitssuche entgegen. Ein paar Monate später konnte er sich bei gut betuchten Herrschaften als Leibwächter verdingen. Diese Leute litten unter einem Hunger, der niemals zu stillen war: Sie gierten nach Karten, Huren, Kapriolen. Jetzt wurde er Zeuge von Ereignissen, jetzt verlangte man Dinge von ihm, die abstoßender waren als alles, was er als Gehilfe des Vogelfängers je erlebt hatte. Im Laufe der Zeit gaben ihm nicht nur seine Kunden, sondern auch deren Verbündete und Gegner viele Spitznamen: Verhüterli der Reichen, Knochenbrecher, Schlagholz, Fäustling, Rohrschnepfe, Überzieher. Binnen zwei Jahren lernte er, den Mund zu halten und möglichst viel abzusahnen, wenn seine Auftraggeber nach exzessivem Genuss von Alkohol und Drogen besinnungslos herumhingen.
Bei Max’ letztem Einsatz als Leibwächter krächzte und kreischte sein damaliger Auftraggeber eines Tages so seltsam, dass alles auf einen Schlaganfall mit anschließender Gesichtslähmung hinwies. Eine private Krankenpflegerin instruierte Max, wie er das entstellte Gesicht seines Dienstherrn mit Hilfe von Wachs und Metallteilen wieder zusammenflicken konnte. Dabei musste er Risse auffüllen und zerstörte Partien ersetzen, während der Syphilitiker, dessen Gesicht einer Fratze glich, seinen
stinkenden Atmen durch die frei liegenden Nasenlöcher herausließ.
Bald fand Glaucous sich erneut auf der Straße wieder. Das Haus seines Dienstherrn wurde mit Brettern vernagelt. Sein letztes Geld hatte er für irgendwelche Wundermittel von Kurpfuschern ausgegeben. Wie gewonnen, so zerronnen. Und doch …
Glaucous wurde klar, dass er möglicherweise eine ungewöhnliche Gabe besaß. Zwar setzte er nur wenig Vertrauen in sein Talent und setzte es kaum ein, doch nach einer Woche auf der Straße, getrieben von Hunger, blieb ihm keine andere Wahl: Er verfeinerte sein Talent und erwarb sich in der eng vernetzten Welt der schrägen Schickimickis schnell einen gewissen Ruf – den Ruf, gefährlich zu sein. Solange er einem Mitglied der »guten Gesellschaft« zu Diensten war, wurde eine Fähigkeit wie seine toleriert. Doch allein auf sich gestellt,
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