Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
heutzutage kaum noch zu finden und für die engsten Diener der Gebieterin am besten geeignet. Letztendlich sei sie es ja, erklärte er
flüsternd und öffnete eine innere Tür, die für die Kosten ihrer Bediensteten aufkomme.
    Whitlow sperrte die Tür hinter Glaucous zu.
    Nachdem er einige Zeit in dumpfer Stille ausgeharrt hatte, so lange, dass er inzwischen quälenden Hunger empfand, bekam Glaucous Gesellschaft, ohne dass er eine aufgehende Tür bemerkt hätte. Sein Besucher schien keine materielle Substanz zu besitzen – der sanften Stimme und dem Geruch (oder dem fehlenden Geruch) nach zu urteilen, handelte es sich offenbar um einen vornehmen Herrn. Diese nebulöse Gestalt, die in ein Gewand noch tieferer Schatten gehüllt war, nahm keine eindeutige Form oder Größe an. Der Besucher mochte blind sein, zumal er Glaucous’ Gesicht und dessen Schultern abtastete, wobei die suchenden Finger an den Flügelschlag von Fliegen erinnerten.
    »Ich gehe niemals an andere Orte«, flüsterte er. »Ich bin stets hier. Das Hier bewegt sich dorthin, wo ich mich aufhalten muss. Man nennt mich den Nachtfalter . Ich heuere Personal für unsere Gebieterin an und führe es ihr zu.«
    Glaucous kam es so vor, als rede das Wesen eine ganze Weile mit ihm. Seine Stimme war suggestiv, wohl moduliert, jedoch schwer zu verstehen. Er sprach von Büchern, Wörtern, Permutationen und einem großen Krieg – größer als jede trostlose Schlacht zwischen den Himmeln und Höllen der Fantasie. » Unsere Höllen sind durchaus real«, sagte er. »Und unsere Gebieterin beherrscht sie alle.« Die Dame suche nach Schicksalswandlern und Träumern . Glücksjäger , sofern richtig angeleitet, seien ideale Jäger und Sammler.
    Der Nachtfalter reichte ihm eine schimmelige Brotkruste und strich danach mit einem Finger über Glaucous’ Schläfe.
»Falls du ein guter Diener bist, wird es dir nie an Arbeit mangeln«, wisperte er. So weit vorgestoßen, hatte Glaucous offenbar keine Möglichkeit mehr, das Angebot auszuschlagen. »Wir bezahlen in mehr als barer Münze. Zeit spielt hier keine Rolle. Andere Vögel – andere Käfige, Mr. Glaucous. Hören Sie genau zu, dann werde ich Ihnen alle Lieder vorflöten, die Sie jemals werden singen müssen.«
    Einige Stunden später ging die Tür auf, und ein gebrochener Sonnenstrahl schnitt durchs Zimmer. Glaucous blinzelte wie ein Maulwurf ins Licht. Whitlow erschien, um ihn hinauszubegleiten. Als sie aufbrachen, schwang ein jämmerlich klagender, schmerzerfüllter Ton, wie Glaucous ihn noch nie vernommen hatte, durch den Raum: Die Leere nahm wieder von ihm Besitz. Leere und tödliche Erschöpfung.
    »Werde ich der Gebieterin je von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen? «,fragte Glaucous, während er mitgenommen und verstört an der Auffahrt stehen blieb.
    »Seien Sie nicht albern«, erwiderte Whitlow. »Niemand von uns wünscht sich das. Der Nachtfalter ist schon schlimm genug, und er kann ihr nicht mal den kleinen Finger reichen.«
     
    In den folgenden hundertzwanzig Jahren reiste Glaucous quer durch Großbritannien, von Stadt zu Stadt. Und danach durch die Vereinigten Staaten, wo er zur Abwechslung auf Rummelplätzen, in Spielsalons und Kuriositätenshows arbeitete. Ständig war er auf der Suche, verhielt sich unauffällig und gab an jedem Aufenthaltsort Kleinanzeigen in Zeitungen auf, deren Text bis auf die angegebene Adresse (später die angegebene Telefonnummer) stets derselbe war:
    Träumen Sie von einer Stadt am Ende der Zeit?
     
    Glaucous bewahrte tödliche Ruhe. Er konnte jedes Vibrieren im Gebälk spüren. Es herrschte absolute Stille. In den nächsten paar Minuten würden hier keine Besucher auftauchen. Der Eintreiber hinter der Tür, der endlos lange seinen Silberdollar warf, hatte es in gewisser Hinsicht an Höflichkeit mangeln lassen: Er hatte Glaucous nicht von seiner Anwesenheit unterrichtet und ihm Informationen vorenthalten. Er wilderte in Glaucous’ Revier.
    Mit einem schwieligen Fingerknöchel klopfte Glaucous an die Tür. »Hallo? Ich bin’s – Howard. Howard Grass«, flötete er mit junger, unsicherer Stimme. Dieselbe Stimme hatte er am Telefon vorgetäuscht, als er sich auf Chandlers Anzeige gemeldet hatte.
    Der schlanke Mann, der die Tür aufmachte, hielt zwischen Daumen und Mittelfinger einen Silberdollar Morgan’scher Prägung. Seine dunklen Pupillen waren erweitert und wirkten starr. Er setzte ein kaltes, überraschtes Lächeln auf – und gleich darauf ein überlegenes Grinsen.

Weitere Kostenlose Bücher