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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Kopfseite. So ein Kunststück konnte zwar jeder bewerkstelligen, doch Chandler berechnete nicht die Umdrehungen der Münze, sondern zog geistig Falllinien und berücksichtigte dabei auch das Abprallen der Münze von der Zimmerdecke und der Wand. Egal, aus welcher Höhe der Dollar hinunterfiel, stets blieb er auf der Kopfseite liegen.
    Glaucous passte seine Atmung der des Mannes an und synchronisierte weitere Körperrhythmen: das Pulsieren des Blutes, das Fließen der Lymph- und Gallenflüssigkeiten. Verwandelte sich in Chandlers Doppelgänger. Kauerte sich mit geschlossenen Augen an die Wand.
    Und wartete.
     
    Kurz nach seinem letzten Besuch in Hounslow, auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Begleiter eines Spielers, begann sein Ruhm seine Perspektiven zu schmälern. Der ehrenwerte Gentleman hatte ihm mitgeteilt, für ihn sei es an der Zeit, weiterzuziehen. Glaucous’ Tage als Spieler waren vorbei, zumindest in London, wahrscheinlich sogar in ganz Europa.
    »Du solltest es mal in Macao versuchen, junger Freund«, schlug Shank vor. Doch dann fügte er leise und mit abgewandtem Blick hinzu, er könne, falls erwünscht, eine spezielle Zusammenkunft arrangieren und ihm endlich eine sichere Festanstellung besorgen.
    Schon lange hatte Glaucous Vorbehalte gegen das Leben auf der Straße.
    Wie im Traum ging er zu dem Ort, den Shank ihm genannt hatte: eine schmale, schmutzige Gasse am Markt in Whitechapel entlang bis zum Ende einer Sackgasse. Dort erwartete ihn ein seltsamer, skurriler Mann. Er war klein, bleich wie der Tod und roch so moderig wie ein nasser Wischlappen. Der stinkende Zwerg kramte eine Karte hervor, auf der in Druckbuchstaben nur ein einziges Wort stand, das auch ein Name sein mochte: WHITLOW. Auf der Rückseite war mit Bleistift ein Termin notiert und die Warnung:
    Diesmal ist es für immer. Unsere Bleiche Gebieterin erwartet das, was ihr gebührt.
    Auf seinen Reisen hatte Glaucous bereits einige lückenhafte und konfuse Berichte über diese Person gehört. Angeblich leitete sie einen kleinen Stab von Männern, die alle einen außerordentlich schlechten Ruf hatten. Flüsternd erzählte man sich Gerüchte, doch kaum einer, falls überhaupt jemand, hatte sie je mit eigenen Augen gesehen. Sie hatte viele Namen: Bleiche Gebieterin, Kalkfürstin, Königin in Weiß. Niemand wusste, was sie wirklich trieb, doch offenbar stieß allen Geschöpfen, die der Stab dieser Frau ins Visier nahm, zwangsläufig ein einzigartig schlimmes Unglück zu. Ein Unglück und etwas, das die Leute »einen Riss in der Zeit« nannten. Einem solchen Riss, sagten sie, müsse man unbedingt ausweichen.
    Glaucous, zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder auf freiem Fuß, packte eine perverse Art von Neugier. Also nahm er den Zug und ging vom Bahnhof aus zu Fuß nach Borehamwood. Dort empfing ihn ein jugendlich wirkender Mann mit einem Klumpfuß, wachsweicher Haut, schmaler Nase, feinem, weißblondem
Haar und tiefblauen Augen, der einen eng sitzenden schwarzen Anzug trug. Er stellte sich nur mit Nachnamen vor: Whitlow.
    Whitlow hatte einen schwarz lackierten Spazierstock mit Silberspitze und ein kleines graues Kästchen mit seltsamem Deckelmuster dabei. »Das hier ist nicht für Sie«, teilte er Glaucous mit. »Ich treffe mich später noch mit jemand anderem. Lassen Sie uns gehen.«
    Das, was Glaucous von diesem ersten Treffen in Erinnerung behielt – die Farbpalette wies nur verschwommene Grau- und Brauntöne auf –, waren die Nervosität und die Verlegenheit, die er wegen seines schlecht sitzenden Wollanzugs empfunden hatte. (Shank hatte darauf bestanden, dass er seinem Dienstherrn die feine Kleidung zurückgab. »Ich bitte dich: Welcher Affe hat schon Anspruch auf die eigene Livree?«)
    Whitlow bot ihm einen Schluck Kognak aus einem silbernen Flachmann an und führte ihn danach die von Hecken gesäumte Auffahrt zu dem heruntergekommenen Hauptgebäude hinauf, das sich als wahres Mäuseparadies entpuppte. Ein Flügel war eingestürzt, und Dutzende von Tauben, die auf Stangen thronten, hatten die Zimmer in Beschlag genommen. Mit einem riesigen alten Schlüssel verschaffte Whitlow sich Zutritt und schob Glaucous mit innerer Belustigung in eine Diele, die mit zerbrochenem Mobiliar und spiral- oder kreisförmig angeordneten Katzen- und Mäuseknochen übersät war. Danach zeigte er ihm das »besondere Zimmer«, das, wie Whitlow behauptete, schon seit vielen Hundert Jahren niemand mehr aufgesucht oder bewohnt hatte. Solche Zimmer seien

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