Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
älterer Mann, und um seinen Mund liegt immer noch ein freundlicher Zug.
»Das war eine Freundin von mir«, dränge ich.
Er zupft seinen Hund am Ohr, der sich mit träge zuckendem Schwanz an sein Bein schmiegt. »Um die würde ich mir keine Sorgen machen.« Ich merke, dass er nicht ehrlich ist. Er will mir zu verstehen geben, dass ich sie vergessen soll. Er zuckt mit den Schultern und will mich immer noch nicht direkt ansehen. »Vielleicht lassen sie sie laufen, aber …«
Über das »aber« will ich nicht nachdenken. »Bitte.« Ich hasse den Geschmack diesesWortes, will aber alles tun, um meine Schwester zu finden. Ich lasse sogar meine Augen feucht werden, weil ich hoffe, dassTränen mir weiterhelfen werden.
»Sie bringen sie zum Hauptquartier im Inneren Bereich«, sagt der R ekruter schließlich. »Vermute ich jedenfalls. Und ich vermute auch, dass du sie nicht wiedersehen wirst.« Er macht eine Pause, ehe er leise hinzufügt: »Mach bloß keinen Ärger.«
Damit gibt er mir zu verstehen, dass ich Schwierigkeiten heraufbeschwöre, wenn ich mich noch länger in der Nähe der R ekruter aufhalte. Mit einem Nicken kehre ich zu den vergessenen Leuten mit den hängenden Schultern und trüben Blicken zurück und verschmelze mit der Menge. Dabei überlege ich, was ich jetzt mache. Wie kann ich meine Schwester finden, wenn sie es denn wirklich war?
Ich war so kurz davor, fortzugehen. So kurz davor, mich von all dem Schmerz und dem Elend zu verabschieden, den dieser Ort mir beschert hat. Und jetzt hat sich wieder alles geändert. Ich kann nicht gehen – noch nicht. Nicht, wenn meine andere Hälfte hier sein könnte.
Es ist sinnlos, nach meinem alten Dorf imWald zu suchen, wenn meine Schwester sich hier auf der Insel aufhält.
Ich lasse mir das Haar wieder ins Gesicht fallen und winde mich durch die sich lichtende Menge. Die meisten werden in den Neverlands bleiben, diesem breiten Streifen verfallenderWohngebiete, der sich über das Nordende der Insel erstreckt.
Ich mache mich auf nach Süden zu den Palisaden, den umfangreichen, aus Wällen und Wehren bestehenden Schutzanlagen, die die Neverlands von der Dunklen Stadt trennen. Früher einmal war die Dunkle Stadt der sicherste Ort, an dem man leben konnte, abgesehen vom Inneren Bereich, in dem das Protektorat vor der R ebellion seinen Sitz hatte . A ber jetzt ist die Stadt genauso verödet und heruntergekommen wie der R est der Insel. Ohne das Protektorat gibt es keine Autoritäten mehr, um die R ekruter zu beaufsichtigen und die früher so umfangreichen Patrouillen zum Schutz der Grenzen der Dunklen Stadt zu organisieren und die Straßen von Ansteckung freizuhalten. Die Macht der R ekruter wird jetzt von nichts und niemandem mehr eingeschränkt.
Alle Leute mitVerbindungen sind gleich nach der R ebellion aus der Stadt geflohen . A ndere haben sich dem weitverzweigten Schwarzmarktnetzwerk in den Neverlands angeschlossen. Wir übrigen haben die verzweifelte Hoffnung gehegt, die Dinge würden sich einesTages vielleicht von allein regeln und das Leben würde wieder so sein wie früher – und sind deshalb geblieben.
Aber natürlich haben wir uns nur etwas vorgemacht. Zwischen den Ungeweihten und den verbliebenen R ekrutern ist die Stadt kein sicherer Ort mehr. Und ein Mädchen ohneVerbindungen, wie ich, hat nur zwei Optionen. Entweder sie lernt für sich selbst zu sorgen, oder sie findet jemanden auf dem Schwarzmarkt, der sich um sie kümmert.
Aber der Schutz, der dort angeboten wird, war mir nie geheuer, deshalb habe ich die letzten drei Jahre völlig allein verbracht.
Über dem Festland ziehen sichWolken zusammen, während ich auf die Palisaden zu wandere, der Wind saust den Fluss entlang und windet sich durch die engen Gassen, pfeift durch Fenster, die schon vor so langer Zeit herausgefallen sind, sodass Unkraut auf den Simsen wuchert und an den rissigen Fassaden herunterhängt.
Im Kopf lasse ich die Szene auf der Brücke ablaufen. Ich habe meine Schwester gesehen. Immer wieder stelle ich mir ihr Gesicht vor, ihre Miene, ihre Haltung . A ber je weiter ich mich von Fluss und Brücke entferne, desto mehr zweifele ich an dem, was ich gesehen habe.
Ich habe die letzten zehn Jahre meines Lebens entweder geglaubt, sie habe sich wie Elias und ich imWald verirrt und sei mittlerweile tot, oder sie habe es irgendwie geschafft, zurück ins Dorf zu gelangen, wo sie seither in Sicherheit lebte. Ich kann mir nicht erklären, auf welcheWeise sie hier auf der Insel hätte
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