Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
Küche, da ein Wohnzimmer, in dem die Zeit stehengeblieben war. Dazwischen enge Reihen schmaler Holzhäuser, jedes vierte oder fünfte davon zu einem Schutthaufen zusammengefallen oder in diese oder jene Richtung sich neigend, als werde es jeden Augenblick aufgeben und einstürzen. Ganze Straßenzüge waren mit Brettern vernagelt und standen leer, einige wegen der Überflutung, andere seit Jahren schon.
Menschen sah ich kaum und nur aus der Ferne. Wenige setzten ihre Häuser instand oder waren unterwegs in die besser erhaltenen Stadtviertel. Viele saßen auf der Veranda und taten, was völlig überforderte Menschen tun. Allein das Nachdenken darüber, wo man anfangen sollte, nahm einem alle Kraft. Bei den meisten Einwohnern der Übergangszone handelte es sich um Drogendealer und ihre Kunden. Die jungen Männer, die aus den Ruinen traten oder darin verschwanden, trugen eine Schusswaffe im Hosenbund, kaum verborgen von den übergroßen Jeans, weiten Sweatshirts und dünnen, weißen, sich blähenden T-Shirts. Was sie taten, war kein Geheimnis.
Die Kundschaft war recht gemischt, viele Weiße, viele Schwarze, wenige Latinos, und die meisten davon kamen in riesigen Pick-ups mit vier Reifen am Heck, so wie ich einen fuhr. Fast alle Autos hatten texanische Nummernschilder. Ich war mir nicht sicher, ob es sich um Texaner handelte, die hier vom Bauboom profitieren wollten, oder um Einheimische, die sich nach der Evakuierung in Houston neue Autos gekauft hatten. Oder vielleicht hatten die Leute ihr Fahrzeug in Texas angemeldet, weil die Versicherungsprämien in Louisiana so exorbitant hoch waren? Vermutlich konnte man sich hier mit allem eindecken: Kokain in allen Varianten, Heroin und vielleicht Meth, möglicherweise auch Hasch, obwohl das eventuell anderswo und nicht unter freiem Himmel verkauft wurde.
Der Verkäufertypus war weniger heterogen. Es handelte sich ausnahmslos um junge Schwarze zwischen dreizehn und fünfundzwanzig mit weißen T-Shirts oder Unterhemden und zu großen Jeans, die tief auf der Hüfte hingen und den Blick auf ein, manchmal zwei Paar schicke Boxershorts freigaben. Manche Dealer trugen einen Parka oder einen Kapuzenpullover, um sich vor der Kälte zu schützen. Die meisten trugen goldene Kronen auf einigen, manchmal auf allen Zähnen. Fast alle trugen das zehn bis fünfzehn Zentimeter lange Haar eingedreht oder zu Zöpfen geflochten, die Träger von gepflegten, langen Dreadlocks bildeten eine Minderheit. Die Männer sahen so einheitlich aus wie in graue Flanellanzüge gekleidete Börsenmakler an der Wall Street oder wie Ärzte in weißen Kitteln oder Marinesoldaten – und wie bei allen Berufsgruppen in Uniform war die Gleichförmigkeit ein Akt der Unterwerfung, bei dem sie sich selbst ein Stück weit vergaßen. Ihrem Blick fehlte etwas, ihre Augen waren leer.
Ich fuhr zum See, durch Broadmoor und Mid-City bis nach Lakeview. In den Straßen wurde es immer stiller, bis die Stille irgendwann auf unheimliche Art zu tosen und zu röhren anfing. Die Gebäude trugen einen Ring dort, wo das Wasser seinen Höchststand erreicht und tagelang gestanden hatte, bevor es sich zurückzog. Die gelblich braune Linie stieg in jeder Straße höher, von Verandatreppen über Veranden bis zu den Fenstern und noch höher, bis das Wasser seine Markierung irgendwann nur noch auf den Bäumen hatte zurücklassen können.
Die Schäden nahmen kein Ende. Sobald man dachte, man hätte das Schlimmste gesehen, entdeckte man in der nächsten Straße etwas noch Schlimmeres: Häuser ohne Wände, von der Wucht der Flut ineinandergeschobene Gebäude, gestapelte Autos, komplett eingestürzte Häuserreihen, Boote auf Gehwegen, Parkplätze voll mit Autos, die von der weißen Staubschicht des zurückgegangenen Schmutzwassers überzogen waren. Die Katastrophe lag mehr als ein Jahr zurück, aber in manchen Straßen sah es aus, als sei seither buchstäblich nichts und niemand hier gewesen, nicht einmal ein Windstoß oder ein Regenguss oder ein Vogel oder ein Atemzug.
Ich fuhr zurück nach Carrolton. Neben dem Highway entdeckte ich ein von der Flut zerstörtes Einkaufszentrum. Ich fuhr auf den Parkplatz und konnte mir nur schwer vorstellen, dass es hier einmal wesentlich weniger trostlos ausgesehen hatte als heute. Ich sah einen Restpostenladen, einen Kosmetikgroßhandel, ein Hühnchenschnellrestaurant und ein Scheck- und Kreditbüro (»Zahltag«). An den Parkplatzenden standen noch die Betonsockel der Straßenlaternen, die vermutlich lange
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