Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
vor dem Sturm umgerissen worden waren.
Seit meiner Ankunft in New Orleans war mir aufgefallen, dass fast alle Autos so aussahen wie meins: riesige, funkelnde, neue Pick-ups und Geländewagen mit weißer oder silberner Lackierung – allesamt Nachkommen abgesoffener Gebrauchtwagen, Resultate der staatlichen Soforthilfe und allgemeinen Hysterie. Dabei wies jedes Auto mindestens einen Schaden auf: eine eingedrückte Stoßstange, ein zerschlagenes Rücklicht, eine dicke Beule in der Seitentür, der Motorhaube oder dem Kotflügel. Die Leute fuhren immer noch, als sei Gefahr im Verzug, sie wechselten panisch die Spur, fuhren zu schnell und bremsten noch schneller, wie um dem Sturm zu entkommen. Mein makelloser Truck stach unangenehm ins Auge.
Meiner Einschätzung nach hielt sich im Umkreis von einem knappen Kilometer niemand auf. Ich überprüfte meinen Sicherheitsgurt, zurrte ihn fester. Dann ließ ich den Motor an und fuhr auf dem Parkplatz große Achten und schließlich Kreise. Ich wurde immer schneller, aber nie schneller als dreißig Stundenkilometer, um die Airbags nicht auszulösen. Ich fuhr einen letzten Kreis, ließ das Lenkrad los und krachte gegen einen der Betonsockel in der Parkplatzecke. Anstatt mich anzuspannen, hielt ich meinen Körper locker, und als ich den Sockel rammte, war es, als schwämme ich auf einer brechenden Welle. Ich hörte das befriedigende Knirschen von Stahl und Glas und Beton.
Das Auto löste seine Alarmanlage aus, um allen mitzuteilen, dass man es verletzt hatte. Ich schaltete den Alarm ab und stieg aus, um den Schaden zu begutachten. Vom Laternensockel war ein großes Betonstück abgebrochen, so dass die Stromkabel herausragten wie Knochen und Blutgefäße. Die Beule in der Stoßstange war so groß wie ein Reh und gesäumt von vielen kleinen Minibeulen und Kratzern.
Jetzt sah mein Auto normal aus. Oder wenigstens so normal wie möglich.
Ich hielt an einer Tankstelle an der Kreuzung von Magazine Street und Washington Avenue, um Wasser und Knabberzeug fürs Hotel zu kaufen. Ich parkte vor der Tankstelle, an der Washington. Als ich mit meiner Wasserflasche und Nüssen und Chick-O-Sticks zurückkam, lehnten zwei Jungen an der Fahrertür meines Trucks. Sie waren etwa achtzehn Jahre alt und trugen die Standarduniform aus zu großer Jeans und schwarzem Kapuzenpulli. Der eine hatte die Ärmel hochgeschoben, so dass ich die Tätowierungen an seinen Unterarmen und Händen sehen konnte, Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die, das wusste ich, für bestimmte Viertel und Gangs und soziale Wohnbauprojekte standen und doch genauso willkürlich wirkten wie die Markierungen an den Häusern: 3MP, 7WB.
Der größere Junge hatte kurzes Haar und ein hübsches Gesicht mit großen, traurigen, samtbraunen Augen. Der kleinere hatte ordentliche Dreadlocks, die ihm bis auf die Schultern fielen, und sehr dunkle Haut. Sein Gesicht hätte im entspannten Zustand sanft und friedlich ausgesehen, aber der Junge gab sich große Mühe, fies zu wirken, was ihm nicht ganz gelang. Unter seinem Kapuzenpullover trug er ein weißes T-Shirt mit dem Bild eines Jungen, der die Hände hob wie zu einer Mudra der Gangsymbolik. Das Bild wurde von Tausenddollarscheinen gerahmt. Kwame »Peanut« Sinclair, 1990–2006, stand darunter. Love U 4-EVER.
»Verzeihung«, sagte ich, »das ist mein Auto.«
Der Junge mit den Dreadlocks lächelte selbstzufrieden und trat zur Seite.
Er wollte bedrohlich rüberkommen, wirkte aber nur linkisch. Ein lustiger, ungeschickter Junge mit Neunmillimeterknarre unter dem T-Shirt.
Der Große trat nicht zur Seite. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah mich an, ohne das Gesicht zu verziehen.
Ich betrachtete ihn genau. Er war so groß wie ich, aber viel, viel kräftiger. Unter seinen zu weiten Klamotten zeichnete sich sein junger, sehniger, muskulöser Körper ab. Dabei hätte es mich überrascht, wäre er in der Lage gewesen, einen Faustschlag zu landen. Er war so schlaff wie ein Schlafwandler.
Offenbar war er auf der Suche nach jemandem, der ihn von seiner Qual erlöste. Ich hatte kein Interesse.
Wir starrten einander an.
»Sie sollten ihm dankbar sein«, sagte der Dreadlockjunge mit leuchtenden Augen. Sein Akzent war so breit, dass ich ihn kaum verstand.
Wieder starrten ich und der Selbstmordjunge einander an. Die grauen Wolken über uns hingen tief.
»Wirklich?«, fragte ich. »Warum?«
»Er hat Ihren Truck bewacht«, sagte der Dreadlockjunge.
Der Selbstmordjunge sah mich an. Schluss,
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