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Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)

Titel: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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Er weinte immer weiter. Sein Gesicht war nass von Rotze und Tränen. Er sah mich an, als hätte ich die ganze Zeit schon neben ihm gesessen.
    »Er hat mich angesehen«, brachte er zwischen zwei Schluchzern heraus. »Er hat mich angesehen, so wie: Jorge. Als würde er meinen Namen kennen. So als wäre er unendlich traurig.«
    »Ist schon gut«, sagte ich, »ist schon okay. Wo wohnen Sie?«
    Aber der Mann weigerte sich aufzustehen. »Er hat mich angesehen «, sagte er. »Er hat einfach nicht aufgehört, mich anzusehen. Ich hatte ihn in der Hand …«
    »Okay, Junge«, sagte ich, »komm. Zeit, nach Hause zu gehen.«
    »Ich hielt ihn in der Hand«, weinte der hässliche Mann, »ich habe sein kleines Herz klopfen gefühlt, und sein Blut – sein Blut war überall an meinen Händen. Sein Herz wusste nicht, dass es nicht mehr schlagen durfte, dass es das ganze Blut …«
    »Wir alle haben Blut an den Händen«, sagte ich. »Aber nun ist es Zeit, nach Hause zu gehen.«
    »Und da«, fuhr er fort, »wurde mir klar, was ich getan hatte. Er hatte bloß leben wollen. Er wollte leben und in Ruhe gelassen werden. So wie früher. Jetzt kann ich das nicht mehr tun.«
    »Okay«, sagte ich, »wir sollten …«
    »Ich kann das nicht mehr«, unterbrach mich der Mann, »ich habe ihm versprochen, dass er der Letzte war. Jetzt weiß ich nicht, was ich mit ihnen machen soll. Es sind so viele.«
    Mir wurde ein bisschen schlecht.
    »So viele?«, fragte ich.
    Ich betrachtete ihn genauer. Er war gar nicht betrunken, er war einfach nur unglücklich.
    »Ich weiß nicht weiter«, sagte er. »Ich brauche Hilfe.«
    Sein hässliches Gesicht flehte mich an.
    »Meine Hilfe?«, sagte ich. »Worum geht es?«
    Er weinte immer weiter.
    »Kommen Sie«, sagte ich, »ich werde Ihnen schon nichts tun. Versprochen.«
    Er rappelte sich unter Mühen auf und ließ sich zum Kranwagen führen. Die Türen waren nicht abgeschlossen. Wir stiegen ein, und er fuhr weinend zum Industriekanal und über die Brücke. Im Neunten Bezirk hielten wir vor einem Haus, das unglaublicherweise noch stand. Ein rosagestrichenes, windschiefes Häuschen.
    Der Mann stieg aus, und ich folgte ihm. Inzwischen hatte er zu weinen aufgehört. Wir schlichen über die Einfahrt zur Hintertür. Das Unkraut im Vorgarten war fast mannshoch. Hier wohnte niemand.
    »Psst«, sagte er. »Sie dürfen sie nicht erschrecken.«
    Er lächelte jetzt. Er zog ein Stück Draht aus seinem Overall und führte ihn ins Türschloss ein. Er bewegte den Draht hin und her, bis das Schloss aufschnappte.
    »Kinderchen«, gurrte er leise und stieß die Tür auf. »Kinderchen! Hey, ihr Vögelein! Daddy ist wieder da. Er hat eine Freundin mitgebracht, die ist sehr nett. Wir können ihr vertrauen.«
    Zuerst roch ich es nur, denselben sauber-schmutzigen Geruch nach Erde und Samenkörnern, den ich schon auf Vics Balkon wahrgenommen hatte. Dann hörte ich das leise, tausendfache Gurren. Der Mann im Overall drückte auf den Lichtschalter, und ich sah sie.
    Papageien, so weit das Auge reichte.
    Das Haus war komplett eingerichtet, wir standen in der Küche. Eine ganz normale Küche armer Leute mit billigem PVC-Boden, einem Resopaltisch und übereinandergestapelten Holzkisten, die als Regale dienten. Nur hockte auf jeder noch so kleinen Fläche ein grüner Papagei. Allein in der Küche mussten es mindestens fünfzig sein. Und jeder einzelne Vogel schien erfreut, den hässlichen Mann zu sehen. Sie kreischten und flatterten und tanzten auf der Stelle. Zwei konnten es gar nicht erwarten, flogen ihm entgegen und landeten auf seiner Schulter.
    Der Mann wirkte völlig verändert. Er lächelte. Er war gar nicht mehr so hässlich.
    »Kinderchen«, sagte er nachsichtig, »ihr frechen, kleinen Kinderchen. Seid still! Keiner darf wissen, dass ihr hier seid!«
    Er griff in seine Tasche und holte eine Handvoll Sonnenblumenkerne heraus, die er an die Vögel auf seiner Schulter verfütterte.
    »Ihr dummen Vögelchen«, sagte er.
    Ein Papagei flatterte auf meine Schulter. Ich musste lachen. Der Mann musste auch lachen, und wir lächelten uns an.
    »Ark«, machte es dicht an meinem Ohr. »ARK.«
    »Früher wusste ich nicht, wer ich bin«, sagte der Mann. Auf einmal war er Vic Willing.
    »Ark! Ark!«
    »Wissen Sie, Claire«, sagte er mit seiner samtweichen Südstaatlerstimme, »Sie werden es sehen, wenn Sie die Augen öffnen.«
    »Ark!«
    »Das Blut lässt sich abwaschen.« Er betrachtete seine sauberen, weißen Hände.
    »Es ist«, sagte er, und

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