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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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einem winzigen runden Tisch, einer jungen Frau gegenüber, deren breites Gesicht und die üppigen Formen vor den Augen des Betrachters in der urwüchsigen Sinnlichkeit eines Rubens-Modells strotzten. Zu dieser Zeit war mir Peter Paul Rubens ziemlich deutlich im Sinn, denn ich hatte kurz zuvor nicht nur das Gemälde Der Liebesgarten, sondern auch Die Kreuzaufrichtung in meiner Eigenschaft als Kritiker vernichtet.
    »Sind Sie öfter hier?« fragte sie, als ich mich ihrem Tisch näherte und dabei mein in Plastik verpacktes Törtchen behutsam auf meinem Getränk balancierte. Ihr üppiges terrakottafarbenes Haar war zu einem bescheidenen Knoten zusammengefaßt. Ihr knöchellanges grünes Kleid bestand aus harmloser Baumwolle.
    Ich setzte mich. »Mhm«, murmelte ich, wobei ich den Zuckerbehälter, den Serviettenspender und die Orangenschalen der Frau beiseite schob, um Platz zu schaffen für meine Bloody Mary und mein Gebäck. »Ich komme auf meinem Weg zum Wittgenstein immer auf einen Sprung hier rein.«
    »Dann sind Sie Kritiker?« Selbst in der künstlichen Dämmerung des Suff am Morgen schimmerte ihre glatte, ungeschminkte Haut seidig.
    Ich nickte. »Jack Sperry.«
    »Ich kann nicht behaupten, daß ich übermäßig beeindruckt bin. Man braucht dazu nicht allzuviel intellektuelle Substanz, oder?«
    Sie konnte so ehrlich sein, wie sie wollte, vorausgesetzt, ich durfte die Bewegung ihrer vollen Lippen betrachten. »Und in welcher Branche sind Sie tätig?«
    »Ich bin Schriftstellerin.« Ihre Augen weiteten sich: klare, großzügige Augen in dem Kobaltblau von Salomes So-So-Empfängnisverhütungs- Creme. »Das birgt natürlich seine Gefahren. Es besteht immer das Risiko der Benutzung von… wie heißt das noch?«
    »Metaphern?«
    »Genau. Metaphern.«
    In Veritas gab es keine Metaphern. Metaphern waren Lügen. Fleisch konnte wie Gras sein, aber es war niemals Gras. Wenn man in Veritas eine Metapher anwandte, setzte sofort die Wirkung des Konditionierers ein; der Kopf pochte, das Herz brannte, und man wurde in einem Eimer des Schmerzes direkt in die Hölle geworfen. Sozusagen.
    »Was schreiben Sie?« fragte ich.
    »Knittelverse. Botschaften auf Grußkarten, Zweizeiler für die Werbung, einfallsreiche Reime, zum Beispiel für…«
    »Läuft das Geschäft?«
    Eine düstere Grimasse verzerrte das strahlende Gesicht. »Ich sollte sagen, ich strebe es an, eine Schriftstellerin zu sein.«
    »Ich würde gern einige Ihrer Verse lesen«, behauptete ich. »Und ich würde gern mit Ihnen kopulieren«, fügte ich hinzu und zuckte wegen meiner Offenheit zusammen. Es war nicht leicht, Bürger dieser wahrheitsbesessenen Stadt zu sein.
    Ihre Miene wurde noch düsterer.
    »Entschuldigung, falls das eine Beleidigung war«, sagte ich. »War es eine Beleidigung?«
    »Es war eine Beleidigung.«
    »Nur eine Beleidigung im abstrakten Sinn, oder von Ihnen persönlich als eine solche empfunden?«
    »Beides.« Sie schob eine Orangenspalte in ihren bewundernswerten Mund. »Sind Sie verheiratet?«
    »Ja?«
    »Glücklich verheiratet?«
    »Ziemlich.« Zu erlangen und zu bewahren, zu lieben und zu ehren, in einem Maße, daß diese albernen und sentimentalen Abstraktionen mit einem Inhalt erfüllt werden: Helen und ich hatten uns für die traditionelle Eheschließungs-Zeremonie entschieden. »Unser Sohn ist nett. Ich glaube, ich liebe ihn.«
    »Wenn wir ein Verhältnis miteinander hätten« – ein verstohlenes Lächeln –, »hätten Sie dann keine Schuldgefühle?«
    »Ich habe meine Frau noch nie betrogen.« Ein Verhältnis, überlegte ich. Eine grauenhafte Sache. »Schuldgefühle? Ja, natürlich.« Ich nippte an meiner Bloody Mary. »Aber ich glaube, ich könnte damit leben.«
    »Nun, Sie können sich dieses Hirngespinst aus dem Kopf schlagen, Mr. Sperry«, sagte die junge Frau; eine Äußerung, die mich mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung erfüllte. »Sie können diesen Gedanken vollkommen…«
    »Nennen Sie mich Jack.« Ich wickelte mein Törtchen aus; an der Verpackung blieben Klumpen von Vanillezuckerguß hängen wie Blutkruste an einem Pflaster. »Und Sie sind…?«
    »Martina Coventry, und im Augenblick verspüre ich nur ein schwaches, leicht zu bezähmendes Verlangen zum Beischlaf mit Ihnen.«
    »Im Augenblick«, wiederholte ich und staunte, wieviel Zweideutigkeit in eine präpositionale Einfügung gelegt werden konnte. Mit einer modisch ungebührlichen Bewegung leckte ich den Zuckerguß von der Verpackung des

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