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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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    Gute alte Wendy. Mein sogenanntes Es fing an zu ticken. Und plötzlich wurde mir bewußt, daß das schlichte Betrachten von Martina Coventrys Handschrift eine geringe, aber nicht zu leugnende Erregung in mir verursacht hatte, als ob ihre Schnörkel und Bögen die Rundungen ihres Rubensschen Fleisches darstellten. Ich nahm einen kräftigen Schluck von Donaldsons Trinkbarem, zog Martinas Verse aus der Tasche und glättete das zerknüllte Blatt Papier auf dem Schreibtisch.
    Die Reime waren so abscheulich wie zuvor, doch die Unterschrift hatte in der Tat eine gewisse erotische Ausstrahlung. Sogar die Linien der folgenden Information bereiteten mir einen schwachen Kitzel. 7, Glanzlose Straße, Bezirk Descartes hatte sie geschrieben, Telefon 610-400.
    Mein Auge fiel auf eine bestimmte Stelle, eine Struktur von dünnen, flachen Vertiefungen im Papier, die den Platz zwischen der Valentinsbotschaft und dem Geburtstagsglückwunsch füllten, und ich erkannte, das sich auf den in meinem Besitz befindlichen Gegenstand eine von Martinas früheren schöpferischen Krämpfen abgedruckt hatte. Neugierig geworden, nahm ich einen der Bleistifte und fuhr mit dem Graphit über das Papier, wodurch die älteren Reime sichtbar wurden, so wie eine fotografische Abbildung in der Entwicklungsschale erscheint. Innerhalb weniger Sekunden lag das ganze Gedicht vor mir, und mein Nervensystem wurde erschüttert durch eine Mischung aus Unglauben, Entsetzen und Faszination.
    Lügen.
    Schauderhafte poetische Lügen.
    Von Martina Coventry persönlich niedergeschrieben.
     
Ich verberge meine Flügel in meiner Seele,
Ihre Federn sind weich und trocken,
Und wenn die Welt nicht hersieht,
Hole ich sie heraus und fliege.
     
    Schweiß trat mir in den Handflächen und auf der Stirn aus. Flügel. Martina hatte keine Flügel. Niemand hatte Flügel. Für wen hielt sie sich, die Nike von Samothrake? Genausogut konnte man die Behauptung von der wirklichen Existenz des Weihnachtsmannes oder von Lewis Carrolls Alice im Wunderland aufstellen. Was die Seele betrifft, dieses kitschige Gebilde…
    Vielleicht trogen mich meine Augen. Ich beschloß, mir selbst das Gedicht laut vorzulesen – hören ist glauben; wenn ich spüren würde, wie diese erstaunlichen Worte in meinem Kopf widerhallten, wüßte ich, daß die tatsächlich existierten. »Ich verberge meine Flügel«, sprach ich in heiserem Flüsterton, aber ich konnte nicht fortfahren. Ein übermächtiges Entsetzen durchfuhr mich und brachte einen so heftigen Migräneanfall mit sich, daß ich beinahe das Bewußtsein verloren hätte.
    Mein kritischer Instinkt gewann die Oberhand. Ich griff nach Martinas Gedicht, rannte aus dem Museum und jagte über den Hof zum Hauptverbrennungsofen. Mit einem heftigen Pochen im Schädel schleuderte ich die Seite in die Richtung derselben brodelnden Grube, in der ich tags zuvor ein Dutzend Bücher zum Thema Reinkarnation und die letzten zweihundert Nummern der Zeitschrift Psychische Heilmethoden vernichtet hatte.
    Ich hielt inne.
    War ich tatsächlich willens, Martina Coventry aus meinem Leben zu werfen? War ich wahrhaftig bereit, ihre Identität den Flammen preiszugeben? Nein, das war ich nicht. Ich richtete den Blick eindringlich auf ihre Adresse und prägte sie mir ins Gedächtnis ein.
    Wie konnte sie Lügen von sich geben, ohne den Verstand zu verlieren?
    Wie?
    Telefon 610-400. Kein Problem. Zu seinem sechsten Geburtstag hatten wir Toby ein Fahrrad mit Zehngangschaltung geschenkt, doch es vergingen vier Monate, bevor ich es zusammenbaute, und dann fuhr er kaum damit, so daß das Ganze null und nicht war, also zweimal null. 6…1…0…4…0…0.
    Meine Hand öffnete sich, und die Verse flatterten ihrem Schicksal entgegen, um sich den epischen Werken Homers, den Theaterstücken Racines, den Romanen von Dickens und dem breiigen, überspannten, pseudowissenschaftlichen Geschwafel von Psychische Heilmethoden zuzugesellen.
     
    »Es ist absolut unglaublich«, sagte ich zu Helen, als wir im Miese Mixgetränke saßen und uns in die Tageskarte vertieften. SANDWICH MIT ERMORDETER KUH, VERWELKTE SALATHERZEN, FISCHROGEN MIT HOHEM CHOLESTERINGEHALT – FÜR ANGEMESSENE $ 5.99. »Vor vier Stunden habe ich mit einer Schwindlerin gefrühstückt. Ich hätte die Hand ausstrecken und sie berühren können.«
    »Aber du hast es nicht getan«, sagte Helen, und ihr Tonfall war eher beunruhigt als überzeugt. Sie schob die Sonnenbrille in

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