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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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ihr dünnes ergrauendes Haar hinauf, um mein Gesicht einer gründlicheren Erforschung unterziehen zu können.
    »Nein, ich habe es nicht getan.«
    »Besteht kein Zweifel daran, daß sie eine davon ist?«
    »Ich bin ganz sicher. Mehr oder weniger.«
    Meine Frau sah mir eindringlich in die Augen, wobei ihr ein Salatblatt über die Lippe hing wie eine grüne Zunge. »Wir wollen nicht durchdrehen«, sagte sie.
    Wir wollen nicht durchdrehen. Das war Helens Leitspruch; er müßte eines Tages auf ihrem Grabstein stehen. Sie war eine Frau, die ihr Leben dem Ziel gewidmet hatte, nicht durchzudrehen – in ihrer Karriere, im Bett, überall. Es war ihr Job, glaube ich, der sie so gelassen hatte werden lassen. Als Redakteurin des gefeierten Supermarkt-Sensationsblatts Süße Vernunft bewegte sich Helen in den Kreisen der Skeptiker und Logiker dieser Welt und lieferte reißerische Meldungen: ÜBERWACHTE STUDIE WIDERLEGT NEUE HEILMETHODE BEI ARTHRITIS; ERSCHLAGENER ZEITUNGSMACHER ALS SCHIZOPHRENER ENTLARVT; VORAUSSAGEN EINES TOP-ARZTES TRETEN NICHT EIN. Wenn man zehn Jahre lang solche Geschichten schreibt, dann zieht man sich eine gewisse Kälte zu.
    Ich sagte: »Hast du eine bessere Deutung, angeblicher Liebling?«
    »Vielleicht hat sie das Blatt Papier auf der Straße gefunden, scheinbares Herzchen«, antwortete Helen.
    Eine schöne Frau, hatte ich immer gedacht: große, schmachtende Augen, weiche runde Wangen, an denen man sich die Hände wie an Balsam reiben möchte. »Vielleicht hat jemand anderes die Gedichte verfaßt.«
    »Es war Martinas Handschrift.«
    Helen biß in ihre ermordete Kuh. »Laß mich raten. Sie hat dir ihren Namen und ihre Adresse gegeben, stimmt’s?«
    »Ja. Sie hat sie auf das Blatt geschrieben.«
    »Hat sie gesagt, daß sie mit dir kopulieren möchte?«
    »Nicht so ausdrücklich.«
    »Hast du gesagt, daß du mit ihr kopulieren möchtest?«
    »Ja.«
    »Glaubst du, es wird dazu kommen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich hoffe es, und ich hoffe es nicht – du weißt ja, wie das ist.« Ich leckte das Fett von einer Pomme frite. »Ich möchte dir ungern weh tun.«
    Helens Augen wurden so dunkel und schmal wie die Schlitze in einem Schützenturm. »Ich bin mir wahrscheinlich genauso unschlüssig wie du. Ein Teil von mir möchte diese Martina gern der Brutalotruppe übergeben, um sie zu unserem Besten für immer aus unserem Leben zu streichen. Der andere Teil, die Frau, die eine gewisse nicht zu leugnende Zuneigung zu dir empfindet, weiß, daß das sehr dumm wäre, denn wenn die Dame ahnt, daß ihr die Polizei auf der Spur ist, dann wird sie auch ahnen, wie sie darauf gekommen ist, nicht wahr? Diese Schwindler, so habe ich gehört, sind nichtwörtliche Katzen mit scharfen Krallen. Es gibt Mörder in ihren Reihen.«
    »Mörder«, pflichtete ich bei. »Mörder, Terroristen, Wahnsinnige. Möchtest du, daß ich das Papier verbrenne?«
    »Verbrenne es, Kritiker.«
    »Das habe ich bereits getan.«
    Meine Frau lächelte. In Veritas fragt man nicht: Wirklich? Machst du Witze? Ist das dein Ernst? Sie aß ihre Kuh vollends auf und sagte: »Du bist ein bißchen besser, als ich gedacht habe.«
    Wir verbrachten den Rest der Stunde mit den üblichen ehelichen Kämpfen. Helen und ich liebten es, uns zu streiten. Meine Erektionen wurden in zunehmendem Maße gegenstandsloser, wie sie mir wahrheitsgemäß versicherte. Die Geräusche, die sie beim Kauen ihres Essens verursachte, waren ekelerregend, berichtete ich ihr ehrlich. Sie verkündete mir, sie habe nicht die Absicht, das Pflichtgeschenk für die Gehirnbrand-Party meiner Nichte am Samstag zu besorgen – Connie war schließlich nicht ihre Nichte. Ich wollte auch gar nicht, daß sie das Geschenk besorgt, hielt ich ihr entgegen, denn sie würde etwas Billiges kaufen, das vordergründig und hintergründig symbolisch für die Verachtung sein würde, die sie meiner Schwester entgegenbrachte. Und auf diese Weise fuhren wir fort, während des Desserts und bis zum Kaffee; wir nagten aneinander wie Mäuse, machten einander nieder wie Heckenschützen. Was für ein Vergnügen, was für ein pathologisches Vergnügen!
    Helen griff in ihre Handtasche und brachte ein zerknittertes Blatt Computerpapier zum Vorschein, das mit gepünktelten Buchstaben bedruckt war. »Das ist heute morgen gekommen«, erklärte sie. »Toby ist von einem Kaninchen gebissen worden«, verkündete sie gleichmütig.
    »Von was? Einem Kaninchen? Was redest du denn da?«
    »Er hat das Ganze inzwischen

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