Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
nicht zulassen, dass Vater es erfährt«, sagte sie. »Nicht jetzt. Überhaupt nie. Er muss daran glauben, dass es immer noch Gutes auf der Welt gibt, nicht nur Schlechtes. Hast du mich verstanden?«
Ich kam nie auf die Idee, dass sie Angst um Vater haben könnte. Doch jetzt muss ich an unser Gespräch auf dem Universitätscampus zurückdenken. An seine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit.
Ich half Mutter, Finn die Treppe hinaufzutragen, nachdem sie ihm das Blut vom Gesicht gewaschen, ihn auf die Stirn geküsst und in unsere zerschlissenen Decken gehüllt hatte. In dieser Nacht froren wir. Schließlich hatten wir keine Decken mehr. Seine Leiche holten die Leichensammler am nächsten Morgen als Erstes ab. Mit einem hohlen Poltern schlug sein Körper auf der hölzernen Ladefläche des Karrens auf. Vielleicht glaubt Vater bis zum heutigen Tag, Finn sei an der Seuche gestorben. Ich weiß es nicht.
Lange Zeit kauere ich mit dem Messer in der kalten, trostlosen Zelle unter der brennenden Stadt und blicke auf die Klinge, völlig gebannt von ihrer Schärfe. Von den Möglichkeiten, die sie verheißt. Aber verrate ich nicht in Wahrheit Finn, wenn ich meinem Leben jetzt ein Ende setze? Ich hasse den Gedanken, dass ich ausgerechnet Will diese Erkenntnis zu verdanken habe.
F ÜNFUNDZWANZIG
S tunden später öffnet Reverend Malcontent die Tür zu meiner Zelle und winkt mich zu sich. Der kecke rote Schal um seinen Hals steht in krassem Widerspruch zu seiner grimmigen Miene.
»Komm mit«, sagt er.
Ich sehe ihm in die Augen, in denen eine fanatische Intelligenz zu flackern scheint, die mir Angst macht. Ich lege die Hand auf die grobe Steinwand und überlege, ob ich mich weigern soll.
»Wir haben Nachricht erhalten, dass Prinz Prospero vorhat, diesen Abschnitt der Tunnel zu fluten«, sagt er.
Ich folge ihm.
»Was geht in der Stadt vor?«, frage ich.
»Die Sünder sind dem Tode nahe.«
Schätzungsweise sind wir das alle. Unsere Blicke begegnen sich. Ich sehe weg.
»Der Rote Tod ist nichts als eine Krankheit«, murmle ich. Doch das stimmt nicht. Nicht seit dem Tag, als der erste Bewohner dieser Stadt der Seuche zum Opfer gefallen ist.
»Alle Seuchen sind ein Werk des Teufels«, erklärt er beiläufig, während er den Blick durch die Tunnel vor uns schweifen lässt.
Reverend Malcontent rückt seinen Schal zurecht, unter dem ich eine breite Narbe erkennen kann. Jemand hat ihm die Kehle aufgeschlitzt. Und dann, als ich sein ergrauendes, einst blondes Haar betrachte, weiß ich plötzlich, wer er ist. Wer er war.
Das Fläschchen, das Vater mir gegeben hat, fühlt sich kalt auf meiner Haut an; genauso kalt wie die Klinge meines Messers, das in meinem Schuh steckt. Langsam gehen wir weiter durch die Gänge. Reverend Malcontent bewegt sich gemessenen Schritts, um sein Hinken zu verbergen. Es erinnert mich an Elliott. Und der Gedanke an Elliott schmerzt mich.
»Ihre Kinder glauben, der Prinz hätte Sie getötet.«
Er berührt seinen Schal. Eigentlich sollte ich Angst vor ihm haben, doch stattdessen bin ich wie betäubt. Ich verspüre keinerlei Furcht.
»Es ist lange her, dass ich Kinder hatte. Aber ich habe alles verloren.«
Angewidert starre ich ihn an. Ich bin diejenige von uns, die den Verlust seiner Kinder betrauert.
»Wie ist es Ihnen gelungen zu überleben?«, frage ich. Mit den dünnen, glatten Sohlen meiner Stiefel rutsche ich über den Steinboden. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, außer ihm Fragen zu stellen und mich zu zwingen, ganz langsam zu gehen, in der Hoffnung auf irgendeine Fluchtmöglichkeit.
»Mein Bruder hat mich zu all den anderen Leichen auf die Straße werfen lassen. Zwei Tage lang habe ich auf dem Karren gelegen. Meine Zunge ist so dick angeschwollen, dass sie meinen gesamten Mund ausgefüllt hat, und die Schmerzen waren entsetzlich. Ich habe gebetet, wie noch nie ein Mensch gebetet hat. Irgendwann stand ein Krokodil vor mir. Es sah mir direkt ins Gesicht, und ich erkannte ein tiefes Wissen in seinen Augen. Vor der Seuche gab es hier nirgendwo Krokodile, weißt du. Sie sind Gottes Gesandte.«
Ich würde ihn ja fragen, weshalb Gott uns seiner Meinung nach Krokodile gesandt hat, statt uns von der Krankheit zu heilen, aber der Mann ist eindeutig nicht bei klarem Verstand.
»Die Erkrankten, die sich in die Sümpfe zurückgezogen hatten, erhörten meine Gebete. Sie zogen mich aus dem Schlamm und pflegten mich gesund. Sie lehrten mich ihre Religion. Und dann lehrte ich sie die meine.« Er legt die
Weitere Kostenlose Bücher