Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
weide. Ich denke, jetzt könnte ich mein Versprechen einlösen, wenn ich auch dadurch mit anderem verzögert vorankomme; auch das Beiläufige muss seinen Platz bekommen. Ich glaube nicht, dass jede Figur und jedes Schicksal um jeden Preis bis zum Schluss dargestellt und genau gezeichnet werden müssen. Ich liebe unvollendete Dinge, es macht mir mehr Freude, eine Figur schweben zu lassen, als sie statisch zu Ende zu erzählen. Das ist natürlich nicht meine genuine Entdeckung, ich habe mir nur ein wenig die Ästhetik jenes Schriftstellers zu eigen gemacht, den Miller »das nordische Genie« genannt hatte.
Vukava lebte zusammen mit ihrer unverheiratet gebliebenen Tochter Vesela. Wegen ihrer Hässlichkeit hatte sie niemanden zum Heiraten gefunden, und es hätte sie auch dann niemand genommen, wenn sie als Mitgift den ganzen Ort L. zum Einsatz geboten hätte. Man könne nicht hässlicher zur Welt kommen, sagte mein Vater, und es werde wohl auch nie wieder in dieser Gegend so etwas Beschämendes geschehen, denn hässlicher könne man nun wirklich einfach nicht sein. Mutter und Tochter lebten gemeinsam in einem Haus gleich hinter der Moschee. So nannten die Leute noch immer die kleine Anhöhe, auf der einst vor langer Zeit tatsächlich eine Moschee gestanden hatte, noch immer orientierte man sich daran und sagte »bei der Moschee« oder »in der Nähe der Moschee«, Sichtbares aus alten muslimischen Zeiten gab es aber nirgendwo.
Das führte manchmal zu Verwirrungen, Durchreisende wunderten sich, denn immer wenn sie nach einer Gaststätte fragten, in der man etwas essen konnte, erwähnten die Bewohner von L. die Moschee, die aber niemand sehen konnte und die nur in ihrer Vorstellung existierte. Es gab sie gar nicht, aber jeder wusste, dass sie dort bis 1912 gestanden hatte, über Nacht jedoch verschwunden war, sodass von ihr nicht einmal eine Spur zu sehen war, nur eine ebene Fläche war noch da, die Reste des Gotteshauses hatte man mit Schotter eingeebnet. Auch ich hatte es mir angewöhnt, den Reisenden Beschreibungen an die Hand zu geben, in denen die Moschee vorkam, ich sagte so etwas wie – »sobald Sie an der Moschee vorbeigekommen sind«. Dann drehten und wendeten sich die Leute, erstaunt über das, was ich ihnen erzählte, aber in meiner Vision sah ich die Moschee, sie entstand vor meinem inneren Auge, und zwar genau in der Form, wie ich sie einmal auf einer alten Postkarte aus dem Jahre 1907 gesehen hatte.
Hinter dieser Moschee lebten also die beiden Frauen in jenem Haus, in dem einst die österreichischen Offiziere untergebracht waren und das mein Vater gleich nach dem Ersten Weltkrieg gekauft hatte. Er hatte es renoviert und hergerichtet, Mutter und Tochter lebten dort in ärmlichen Verhältnissen. Sie hatten eine Kuh und sechs Ziegen, die Aufgabe der Hirtin übernahm Vesela, ihre Mutter kümmerte sich um den Haushalt, sie kochte das wenige, das sie aßen, sie wusch die Wäsche und hielt das Haus in Ordnung. Vesela trieb in der Frühe die Kühe auf die Weide, die dann dort bis zum Abend blieben, auch die Ziegen führte sie nach draußen, zu jenen Stellen, wo es viel Grün gab, sie blieb neben ihnen sitzen, strickte oder spann Wolle; den Mund machte sie selten auf, und wenn sie sprach, dann nur durch die Nase, und das auch nur, um sich über irgendetwas zu beschweren. Sie trug immer Schwarz und hatte einen durchsichtigen Schleier um ihren Kopf gewickelt. Die Leute rannten vor ihr weg oder drehten sich nach ihr um. Es machte niemandem Freude, ihr über den Weg zu laufen. Sie war sich dessen sehr bewusst und versteckte sich immer, sobald sie jemanden sah. Kaum einer hörte je ihre Stimme; nur mir gelang es, ein paar Sätze aus ihr herauszubringen. Aber irgendjemand hatte dieses unsichtbare Geschöpf eines Tages dann doch geliebt, denn sie wurde schwanger, das muss in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre gewesen sein. Ihre Mutter wusste, dass Vesela ein Kind bekommen würde, aber sie hatte keine Ahnung, wer sein Vater war. Schnell aber war für alle klar, dass es sich um eine sündige Vereinigung handeln musste, deshalb war es wichtiger, dass man herausfand, wer überhaupt in diese missliche Lage gekommen war, dieses Ungeheuer von Frau zu berühren, ohne dabei Angst um die eigene Familienehre verspürt zu haben. Aber nicht sie war die gebrandmarkte Sünderin, sie war eigentlich die erste Frau dieser Gegend, deren Vergehen unbedeutend erschien im Vergleich zu jenem des männlichen Verführers, den man allerorts
Weitere Kostenlose Bücher