Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
verachtete. Oder war es womöglich vielleicht ein Tier, das sie bestiegen hatte? So viel zum bösen Zungenschlag der Leute. Meine Tante Vesela hielt sich bedeckt.
Das Kind starb ihr im dritten Monat. Man sprach vom Kindsmord, Beweise gab es dafür aber nicht. Auf die Frage, ob sie ihr Kind getötet habe, antwortete Vesela mit einem Nein, indem sie den Kopf bewegte. Der kleine Leichnam hatte bei der Obduktion nichts Verdächtiges an sich gezeigt. Über die Vaterschaft wurde weiterhin gemutmaßt, und wäre der arme Bastard am Leben geblieben, würden sich die Nachfahren noch immer die Geschichten von damals erzählen. In jener Zeit war ein dickköpfiger Schädel keine Ausnahme, eher waren Menschen ohne Gefühle die Regel. Unter ihnen waren durchaus ernstzunehmende Leute, die zu meinem Vater kamen und ihm tatsächlich den Vorschlag unterbreiteten, seine Schwester zu quälen. »Denn niemand auf der Welt pinkelt sich nicht vor Angst in die Hose, wenn man ihm Schmerzen zufügt.« Das waren ihre Argumente. Aber mein Vater hatte immer die gleiche Antwort parat. »Vielleicht würden wir ja alle überrascht sein! Wenn es irgendein Nichtsnutz oder Idiot gewesen wäre, wüssten wir es doch ohnehin schon längst. Da hat schon jemand ganze Arbeit geleistet, und die Ärmste schweigt sich jetzt aus. Ich gehe davon aus, dass es jemand ist, der unter uns allen Ansehen genießt, irgendein Offizier oder Ingenieur, denn wenn sich unsere Leute tatsächlich auf Ziegen und Schafe oder auf Stuten und Kühe werfen, die alten Großmütterchen vergewaltigen, dann ist meine arme Schwester im Vergleich zu ihnen allen noch immer eine brave Jungfrau, ja verglichen mit den Kühen und Großmüttern eine Heilige. Unsere Leute sind nicht nur primitiv, missgebildet und mit Tierbeinen ausgestattet, sondern auch krank bis auf die Knochen. Wenn ihnen das Blut zu Kopfe steigt, dann ist ihnen das Loch so was von egal, in das sie ficken, wenn es nur ein bisschen warm ist, na dann gefällt’s ihnen umso besser. Ich hab gehört, dass ein Landsmann von uns einen Haufen Kuhscheiße gefickt hat, aber er war alles andere als irre.«
Diese harten Worte meines Vaters wurden bis in meine Zeit überliefert, niemand konnte sie ignorieren, Vaters Nihilismus stand für sich. Aber jeder hatte in dieser Sache seine eigenen Argumente zur Hand. Ich habe schon erzählt, dass ich meine Tante gern hatte, ich mochte es, sie anzusehen, mit ihr fielen mir alle möglichen Verrücktheiten ein, ich fragte sie auch immer allerhand, aber sie antwortete mir nicht, lachte nur das eine oder andere Mal und legte dann wieder ganz schnell ihr ernsthaftes Gesicht auf, so als hätte sie sich wieder daran erinnert, dass es ihr verboten war zu lachen, obwohl es niemanden gab, der dieses Verbot tatsächlich ausgesprochen hatte.
Muss ein Mensch eigentlich etwas sagen, um sein Gutsein zu beweisen? Meine Tante war in Wirklichkeit ein guter Mensch. Mein Vater pflegte zu sagen, dass die »stumme Vesela« sich als die Klügste von uns allen erwiesen hatte, sie musste sich wenigstens nicht ihrer Worte schämen, während jeder von uns im Laufe seines Lebens irgendeinen Unsinn von sich gebe, und wenn er sich darüber im Klaren sei, dann könne das nicht spurlos an ihm vorübergehen, etwas müsse letzten Endes seinem Gewissen zusetzen. Ich war der Einzige, der Vesela zum Reden bringen konnte, Vater aber glaubte mir nicht, und die Tante war meine Zeugin, sie bestätigte, dass ich die Wahrheit sagte, indem sie bejahend mit dem Kopf nickte. Das war mehr oder weniger alles, was man aus ihr herausbekommen konnte. Etwas anderes brachte nicht einmal ihre Todesstunde mit sich.
»Es war ein feiner gebildeter Mann«, hatte mir meine Tante Vesela dann doch noch anvertraut. »Wir haben uns sechs Monate lang heimlich getroffen, im Wald oder in der Höhle. Ich habe ihn geliebt, und das ist alles, was man je von mir hören wird«, sagte sie.
Meine arme Tante! Ich weiß nicht, ob sie es je bereut hat, mir so viel erzählt zu haben, denn es sprach sich bald darauf schnell herum, weil ich es immerfort herumerzählte, dass ihr Geliebter ein reicher und gebildeter Herr war. Damit gab ich den ohnehin schon kursierenden Geschichten noch mehr Futter, obwohl sie eigentlich am Abflauen waren. Vielleicht war ihr Verführer schon lange tot. Meine Tante Vesela hatte bald ganz andere Sorgen. Einmal traf ich sie hinter dem Haus, sie war traurig und hatte geweint, ich war zwölf Jahre alt. Ich habe sie nicht beim Weinen beobachtet,
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