Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
sondern bin gleich zu ihr getreten und habe sie sofort umarmt. Ich versuchte, irgendetwas Zärtliches und Beruhigendes zu ihr zu sagen; so etwas machte sonst niemand aus unserer Familie. Warum hatte meine Tante geweint, was hatte sie bloß derart erschüttert? Langsam und mit Nachdruck hatte ich es geschafft, die Gründe für ihre Sorgen und ihre Bitterkeit herauszubekommen, die sie in einer Zeit erlebte, als sie schon eine reife Frau war. Sie erzählte mir, dass die Kommunisten ein Gesetz für unsere Gegend erlassen hatten. Es durften in unserer Region keine Ziegen mehr gehalten werden, weil es hieß, sie zerstörten die Wälder. Wenn dies nicht aufhörte und man die Ziegen nicht schlachtete, würden wir bald nur noch kahle Landschaften haben. Vesela war mit Ziegenmilch und Ziegenkäse großgezogen worden; die Ziegen waren die einzige Freude in ihrem Leben, sie sorgten aber nicht nur für ihre Ernährung, sie waren auch ihre Gefährtinnen, mit denen sie leise sprach, ja mit denen sie sich sogar manchmal stritt, wenn sie nicht das machten, was sie von ihnen verlangte. Die kleinen Zicklein liebte sie über alles. Sie umarmte sie oft, küsste sie, als seien es ihre eigenen Kinder. Sie besaß zwei Wolldecken aus Ziegenhaar und einen Bettvorleger aus Ziegenleder. Und dann kamen die Kommunisten mit ihrem schlauen überflüssigen Paragrafen und vernichteten all das, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken. Wer hätte da nicht geweint!
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Mit meinen »erotischen Karten« geriet ich in Schwierigkeiten, es gelang mir nicht, den naiven und neugierigen Kindern auch nur einen Groschen zu entlocken, aber dafür hefteten sich ein paar Schufte aus den höheren Klassen an meine Fersen. Sie stellten mir häufig nach und versuchten auch, mir die Karten zu entwenden, deshalb bewaffnete ich mich eines Tages mit einem kleinen Messer, das die Form eines Fischleins hatte. Außerdem trug ich auch einen eisernen Schlagring, den mir ein Verwandter, der Eisenschmied war, in seiner mit Äxten, Sensen und Hufeisen überfüllten Werkstatt schmiedete, während ich mich mit einem Blasebalg um das Feuer kümmerte. Aber meine Bewaffnung nützte mir nichts, sie stahlen mir zwei Karten, einen Karobuben und einen Joker; so etwas passierte mir immer mit den Dingen, die mir etwas bedeuteten und auf die ich achtgab. In meine Schule gingen zu allem Übel auch noch berühmt-berüchtigte Taschendiebe.
Ich habe nie erfahren, wer mich von ihnen verraten hat, aber auf diese Weise hatte ich eine Lektion fürs Leben erhalten und kam wie erwartet fast um vor Scham. Nicht nur vor meiner Lehrerin, sondern auch vor jenen Leuten, die eine hohe Meinung von mir hatten, weil ich einen guten Ruf wegen meiner literarischen Zusammenfassungen und der gut gemachten Hausaufgaben genoss. Damals hatte man im Gemeinderat davon gesprochen, mir wegen meines »ungewöhnlichen Talentes« ein Stipendium zu geben. Dieser Glückstod hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt, denn immer wenn es so aussah, als würde mein Leben sich zum Besseren wenden, passierte etwas, das die ganze Sache wieder umwarf; und meistens war ich selbst daran schuld.
Ich wusste ganz genau, was uns Schülern verboten war und bei welchen Dingen es sich in der Schule um eine Grenzüberschreitung handelte, aber dass es sich bei diesen harmlosen Bildchen um eine derart große »gefährliche moralische Unterwanderung« handelte, das war mir keineswegs klar. So hatte sich der Schulinspektor geäußert und mich der Gründung und Leitung eines »Handbordells« bezichtigt. All das verstand ich nicht, seine Ausdrücke konnte ich nicht deuten und es war mir auch nicht klar, was er damit gemeint hatte, dass ich »das allgemeine moralische Niveau in der Schule zerstört« habe. Ich erinnere mich an diesen Inspektor, es war ein gedrungener Mann von etwa fünfzig Jahren; ständig wurde betont, dass er sich um irgendetwas verdient gemacht habe, aber was das gewesen ist, habe ich vergessen. Er kam selten in die Schule, nur wenn etwas Besonderes vorfiel; bei uns tauchte er auf, als unser Physik- und Chemielehrer wegen seiner religiösen Überzeugungen verhaftet wurde, und das andere Mal, als ich zum Problem wurde, als hätte ich ein so großes Drama produziert, dass nur er sich darum kümmern konnte.
An diesem Tag wartete meine Lehrerin vor unserem Klassenzimmer auf mich, sie legte ihre eiskalte Hand auf meine Schulter, und während sie mich den langen Schulflur vor sich herschob, fasste sie zwei, drei Mal fest an
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