Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
Vom Netzwerk:
wegnehmen wollte, damit andere mit seinen ehrlichen Errungenschaften und fremdem Fleiß neues Fett ansetzen konnten. Absichtlich benutze ich hier das Wort ehrlich, auch wenn ich mir natürlich darüber im Klaren bin, dass die Handelsgeschäfte alles andere als eine saubere Sache sind, aber noch einmal möchte ich das Wort ehrlich ausdrücklich betonen, denn die Kommunisten behaupten, dass die Leute alles ohne Ehrlichkeit erworben hatten – »auf dem Rücken des Volkes und der Arbeiterklasse«.
    Obwohl wir in der Stadt lebten, waren wir in Gedanken und mit dem Herzen in L., vor allem Vater und ich, und immer wenn wir auf etwas Nostalgisches zu sprechen kamen, gesellte sich Mutter zu uns. Wir litten sehr und trauerten um das, was wir verloren hatten, wir sprachen über die Schönheit der Landschaft, nicht nur über jenes Landstück am Fluss, sondern auch über jene Teile unserer Ländereien, die den Leuten als vollkommen unbrauchbar erschienen, weil sie glaubten, diese seien wild und für den Landbau ungeeignet. Manchmal konnten wir nachts nicht schlafen, kamen um vor Sehnsucht, als sei dieser Ort nun für immer in unerreichbare Ferne gerückt, aber in Wirklichkeit konnte man ihn in einer Viertelstunde mit dem Lokalzug erreichen. Ich war sogar öfter mit dem Fahrrad auf die Schnelle hingefahren; ich radelte morgens hin und kam abends wieder zurück. Wir sprachen dann über alles, was sich in L. ereignet hatte, wir waren über alles auf dem Laufenden, wussten, wer wohin gereist war, wer sich mit wem verlobt hatte, wer gerade mit wem einen Streit austrug, wessen Weinberg am fruchtbarsten und wer der neue Bahnhofsvorsteher war.
    Vater träumte davon, dass man eines Tages in L. einen Stadtturm errichten würde, mit einer Uhr, die zu jeder vollen Stunde schlug, dann wäre auch denkbar gewesen, dass man eine schöne Markthalle auf dem heutigen kleinen Marktplatz erbauen ließ. Unser Geburtsort war von betörender Schönheit und Vater fand immer etwas an ihm, das ihn rührte. Die Pappeln am Fluss liebte er sehr, aber auch die Baumkronen der anderen Bäume mit ihren ausufernden Wipfeln hatten es ihm angetan. Über die sieben Eichen vom Marktplatz konnte er stets Märchenhaftes erzählen, seine Geschichten reichten bis in die Zeiten des Sultans Ali-Bey Vlahović. Mein Vater hatte das alles von seinem Großvater gehört. An diesen sieben Eichen hatte ein Kommandant der osmanischen Armee, dem ein böser Ruf vorauseilte, sieben Kinder, die er unseren Vorfahren entrissen hatte, an den Bäumen festgenagelt. Als Antwort darauf seien aber in den darauffolgenden Jahren vierzig neue Kinder zur Welt gekommen, auf Befehl der Stadtvorsteher wurden die Verheirateten wie die Unverheirateten, die Witwen wie die alten Jungfern dazu aufgefordert, zahlreich zu gebären. Es war eine Anordnung, die sogar vom Priester gesegnet wurde. Den Frauen wurden im Vorfeld die Sünden verziehen und alles, was sie taten, wurde prophylaktisch offiziell als vortreffliche Tugend deklariert.
    Ein europäischer Reisender, der in der Herzegowina unterwegs war und immerfort solcherart Geschichten gehört hatte, kam zu der Erkenntnis, dass sich in dieser Gegend »die Moral allen äußeren Umständen anpasst, man könnte auch sagen, sie steht auf wackeligen Füßen«.
    Natürlich hatte er recht, aber wenn man auf der Durchreise ist, sieht alles so einfach aus. Etwas anderes ist es aber, in einer solchen Gegend zu leben. Die Moral hat in der Gefangenschaft ihre eigene Gesetzmäßigkeit und bringt zwangsläufig Dinge mit sich, die in Amoralität kippen können. Man kann natürlich jetzt mit Voltaire aufwarten und davon sprechen, dass es nur eine Moral gibt, so wie es auch nur eine Geometrie gibt. Was aber ist für mich Moral? Für mich ist Moral nichts anderes als Ehrlichkeit, die aber nicht auf Kosten der Regeln geht, keine »geometrische« Aufrichtigkeit, sondern eine, die aus der Betrachtung des Herzens kommt. So hat es auch in ähnlicher Weise der Dichter Ibrahim-Bey Bašagić aus Nevesinja empfunden und geschrieben. Ob ich auf dem richtigen Weg und der sogenannten richtigen Seite bin, das hängt für mich von den Umständen ab, unter denen ich gezwungen bin, meine Entscheidungen zu treffen. Und warum kann ich dabei für niemanden ein Beispiel sein? Ich habe eine einfache Antwort: Ich leide an unheilbarer Melancholie.

47
     
    An einem Nachmittag sah ich Mutter in vollkommen neuen Kleidern. Sie trug einen breiten Faltenrock, eine Bluse aus leichter Baumwolle, über

Weitere Kostenlose Bücher