Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
der sie eine Männerweste mit eingenähten Taschen trug. Aus einer der Taschen ragte eine Silberkette heraus, die ohne Zweifel meinem Großvater gehörte. Sie trug flache Schuhe und sehr schöne Lederschnürsenkel mit Schmuck. Es handelte sich um Lackschuhe, sie waren noch ganz neu, weil Mutter sie bisher nie getragen hatte. Sie trug natürlich auch den schwarzen Hut mit der großen Krempe. Sie in diesem Aufzug zu sehen machte mich sprachlos und ich rannte sofort zu Vater, rief ihn, damit er sie auch gleich betrachten konnte. Vater sah sie von der Türschwelle aus misstrauisch an, ich versteckte mich hinter ihm und betrachtete sie heimlich, wie jemanden, der verrückt geworden ist.
Vater fragte sie, zu wessen Begräbnis sie sich denn auf den Weg gemacht habe. »Ich habe zwei Eintrittskarten fürs Kino gekauft.« Mutter drückte mir die Karten in die Hand und sagte: »Verwahre du sie.« Und Vater ließ die Schultern sinken und ging zurück in den Laden. So groß meine Freude auf das Kino war – die Liebe fürs Kino hat mich auch nie wieder losgelassen –, so sehr schämte ich mich wegen Mutters Kleidung und auch wegen ihrer Schwangerschaft, obwohl sie selbst sehr stolz war auf ihren Bauch. Ein paar Lausbuben sagten über meine Mutter, dass sie trächtig sei. Das wiederum verletzte und kränkte mich zusätzlich, aber ich war nicht mutig genug, um mich ihnen physisch zu widersetzen. Hinzu kam, dass ich die Bedeutung und Tragweite des Wortes nicht ganz erfasst und sie in meinem Erleben etwas milder verbucht habe, als sie eigentlich war. Aber wie auch immer, die Leute aus unserem Viertel mochten weder mich noch meine Eltern. Ihre Sticheleien waren bösartig, sie sahen in uns immer noch Neuankömmlinge und sprachen abschätzig von unseren Bergnaturen. Es interessierte sie gar nicht, dass mein Vater den Alteingesessenen beibrachte, dass unser Ort einst Leusinium geheißen hatte, dass er in altgriechischen Zeiten besiedelt wurde und damit älter als der neue Ortskern war. Wir hatten uns damit arrangiert, dieser Unfreundlichkeit ausgeliefert zu sein, was aber nicht heißt, dass wir wegen ein paar böser Menschen alle unsere Nachbarn verachteten. »Auch die Feindschaft muss man erträglich gestalten«, hatte mein Großvater Tomo immer gefordert.
Der Film wurde unsere neue Leidenschaft und wir sahen uns Filme aller Genres an. Sonntags gingen wir zur Matinee und am Abend sahen wir die gleiche Vorstellung noch einmal. Wir hatten damals keine Kriterien für Gutes oder Schlechtes. Unsere Devise war, dass alles gleich gut war, und das wurde auch bald zu unserer Ästhetik. Ob wir den Film verstanden hatten, fanden wir heraus, wenn wir ihn uns nacherzählten, wer besser erzählte, der war fein heraus, wer irgendetwas vergaß, eine Szene, ein Detail, der hatte verloren und durfte nicht weitererzählen. Und der andere durfte dann allein weitermachen. Ich konnte mich zu den besseren Erzählern rechnen, mein Problem war nur, dass ich irgendwann anfing, mir Szenen auszudenken, die es im Film gar nicht gegeben hatte, so kam es zu Verwirrungen und die Leute reklamierten den Stoff, da sie sich daran nicht erinnern konnten. Selbst dann, als man mich entlarvt hatte, machte ich mit den Erfindungen weiter und wurde vom Kreis der Erzähler ausgeschlossen, man beschwerte sich über mich, weil ich, hieß es, immer einen ganz eigenen und damit einen vollkommen anderen Film sah. »Entweder bist du ein Lügner oder ein Debiler«, sagten die besseren Erzähler, jene also, denen nie ein Fehler unterlief.
Mutter liebte das Kino und das bedeutete mir viel, nicht nur deshalb, weil ich von ihr dafür Taschengeld bekam, sie hatte immer etwas Kleingeld für mich, das sie mir heimlich gab, sie wurde ganz lebendig, wenn ich ihr Filme nacherzählte, aufmerksam hörte sie mir zu. Sie fand nie heraus, an welchen Stellen ich mir etwas ausdachte oder sie regelrecht belog. Sie ging mit mir ins Kino, aber zum Glück nicht so oft – das sage ich wegen meiner Freunde. Denn wenn sie uns zu einer Vorstellung begleitete, setzte sie sich immer in die erste Reihe, und das machte uns zu schaffen, weil wir uns in ihrer Anwesenheit nicht entspannen oder etwas Verrücktes machen konnten, zum Beispiel wagten wir es nicht, über irgendeine Derbheit zu lachen. Nach der Vorstellung liebte ich es, in allen Details mit Mutter über den Film zu reden; sie fühlte mit den leidenden Helden, mit den schmerzlichen Erfahrungen irgendwelcher Filmschönheiten, wir bewunderten die
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