Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
Vom Netzwerk:
gewesen? Der Alkohol half ihm dabei, denn die Betäubung war mit der Zeit ein Land für ihn geworden. Vielleicht war jeder von uns überzeugt davon, dass ihm Gott ungerechterweise diesen Flecken Erde als Geburtsort zugewiesen, dass er ihm diese Sprache, diese Kultur einfach aufgebürdet hatte, deshalb versuchten wir, kraft unseres eigenen Willens, diese Ungerechtigkeit wie ein Gewicht von unseren Schultern abzuwerfen. Immer wenn wir auf dieses Thema zu sprechen kamen, fasste mein Vater das Ganze auf seine Art zusammen und sagte: »Zuerst musst du ein schönes Fleckchen Erde finden, dort für deinen Schutz sorgen und dann kannst du mit dem Pinkeln beginnen.« Was aber würde in dieser Logik dann aus mir werden? Habe ich alle meine Züge vorbeifahren lassen, ohne auf sie aufzuspringen? Ist es nun zu spät, so etwas wie einen Anker auszuwerfen?

52
     
    Am frühen Morgen hörte man ein Poltern an unserer Ladentür; es waren feste Schläge, die uns weckten, ich ging als Erster zum Fenster und erblickte einen Milizionär und zwei Leute mit Akten unter dem Arm – das waren Schriftführer. Einer von ihnen war eine Zeit lang in Vaters Geschäft als Hilfsarbeiter angestellt gewesen, er hieß Đurica Mrkajić. Er hatte die Angewohntheit, immer laut zu lachen, und ich hatte den Eindruck, er mache das auch ohne einen ersichtlichen Grund. Er lachte aus vollem Halse, nur um beachtet zu werden und um einmal mehr jenen Satz zu hören, den die Leute dann gerne sagten. »Wo das Lachen ist, wird auch Đuro nicht weit sein!« Aber wenn sie etwas getrunken hatten, hörte sich das ganz anders an, sie sagten: »Da steht er, der dumme Đuro, fällt wie ein Huhn vom Himmel herunter und lacht über jeden Scheiß.« Seitdem ich ihn kenne, lacht er über nichts so gerne wie über den Kummer anderer Menschen.
    Ich machte das Fenster auf und sah nach unten. Der Milizionär gab mir den Befehl, sofort meinen Vater die Tür öffnen zu lassen, und Đurica behandelte mich wie einen Vorgesetzten.
    »Guten Morgen, Chef! Oho, ho, ho, Chef habe ich gesagt, das Wort Chef kitzelt ja geradezu an meinen Lachnerven! Das sind ja schrecklich miese Zeiten, in denen das Gesindel es bis in Chefetagen schafft, und die richtigen Leute werden zu Dienern und Handlangern gemacht. Oho, ho, ho!«
    »Ach Đuro, du bist durchgeknallt!«, rief ich ihm entgegen und machte das Fenster zu.
    Ich ging mit meinem Vater nach unten, der mit seinem großen Schlüssel die Ladentür aufmachte, er tat das ohne Angst oder Verärgerung, wirkte sogar fröhlich dabei, als fiele ihm nun eine Last von den Schultern. Ich wäre gerne bei ihm geblieben, seine Gelassenheit bewunderte ich in jenem Augenblick, aber an diesem Tag war das Ende des Schulhalbjahrs, die Zeugnisse wurden ausgeteilt und um acht Uhr musste ich zur Schule gehen. Đurica erklärte meinem Vater, dass jetzt eine Generalinventur stattfinden würde und er nichts aus dem Geschäft entfernen dürfe, was von ihnen vorgefunden worden war.
    »Der Ladenbesitzer muss jetzt anwesend sein«, sagte der Hauptschriftführer, »wir, die wir alles niederschreiben, werden jedes kleine Ding laut beim Namen nennen, bevor wir es in unser Inventurheft aufnehmen, wir wollen uns nicht am nächsten Tag nachsagen lassen, wir seien Räuber und hätten uns etwas genommen, was uns nicht gehört.«
    »Dann ist der arme Đurica also nichts weiter als ein kleiner Schreihals?«, wollte mein Vater wissen.
    »Đurica war hier kaufmännische Hilfskraft und kennt jeden Artikel beim Namen«, sagte der Hauptschriftführer.
    Der Milizionär verpasste meinem Vater Handschellen und wies ihm einen Tisch zu, von dort sollte er die Inventur verfolgen. Das waren offenbar die üblichen Vorsichtsmaßnahmen, um den einen oder anderen hitzigen Ladenbesitzer in Schach zu halten, damit sie nicht auf die Schriftführer und Staatskräfte losgingen. Als ich neben meinem Vater stand, der bereits mit Handschellen am Tisch saß, schnappte der Milizionär plötzlich nach meinem Ohr und fing an, an ihm zu ziehen, ich versuchte, mich so lang wie möglich zu machen, mich auf die Zehenspitzen zu stellen und meinen Kopf so weit es ging zu neigen, um den Schmerz besser aushalten zu können. »Ich reiß dir die Ohren ab«, schrie er. »Du hast einen im Staatsdienst stehenden Mann beleidigt! Wer ist hier durchgeknallt?«
    Die beiden Läden in unserer Straße, Vaters Geschäft genauso wie das der Paranos-Brüder, aber auch Senads kleines Lädchen, in dem Eisenwaren und Agrarprodukte

Weitere Kostenlose Bücher