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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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bevor wir Arm in Arm zur Klassenzimmertür gingen. Mein Kinn fing an zu zittern, ich kämpfte mit meinen Empfindungen, versuchte sie mit meinen schwach ausgeprägten Kräften in Schach zu halten, aber es war nicht leicht, gerade mal so gelang es mir, nicht in Tränen auszubrechen.
    »Wir sehen uns noch«, sagte meine Lehrerin. »Ich komme heute Abend zu euch, um mich auch von deinen Eltern zu verabschieden. Auch sie habe ich liebgewonnen, sie sind einfache Menschen, so einfach, wie es auch meine Eltern sind.«
    Aus der Schule kehrte ich sehr niedergeschlagen heim, aber zeitgleich fühlte ich auch Freude in mir. Ich stand wieder in der Gunst meiner Lehrerin. Über die Außentreppen ging ich ins Haus und traf Mutter in Vaters Stuhl sitzend an, sie hatte geweint und zog sich alle paar Augenblicke ihren Schal fester und fester um den runden Bauch. Sie freute sich, als ich ihr mein Zeugnis und meine Noten zeigte; ihr trauriges Gesicht leuchtete kurz auf. Sie hatte viel geweint, weil wir den Laden verloren hatten, ich nahm ihre Hand und führte sie zum Bett, damit sie sich ein bisschen hinlegen konnte. Als ich versuchte, sie ein wenig zu trösten, lächelte sie erst zaghaft, dann etwas offener und lachte dann schließlich ganz laut. Ich spielte ihr irgendetwas vor, alberte herum, damit sie wieder guter Laune wurde.
    Und jetzt, da ich dieses Kapitel zu Ende bringe, lese ich ein paar von diesen Seiten, die ich vor einer halben Ewigkeit geschrieben habe, und es wird mir klar, dass hier noch zwei, drei Ergänzungen zu meiner Lehrerin Jozipa wichtig sind. Ein Grund dafür ist, dass die Beschreibung eines Schicksals ein großes Geschenk für den Schreibenden sein kann, aber vor allem auch, weil ich mich in diesem Falle tatsächlich an die Wirklichkeit, also an das halten will, was damals passiert ist.
    Nachdem wir uns an jenem Abend in unserem Haus von Jozipa verabschiedet haben, sind wir einander nie wieder begegnet, aber ich habe noch etwas über sie erfahren.
    Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts habe ich die meiste Zeit in Zagreb verbracht. Dort trieb ich mich immer in einer Gruppe junger Filmemacher herum, machte gerade meine ersten unsicheren Schritte als Drehbuchautor und schrieb auch Hörspiele, und am Ende dieses Jahrzehnts wurde ein Film, für den ich das Drehbuch geschrieben hatte, nach Cannes eingeladen. Später wurde er auf vielen anderen Festivals gezeigt und bekam auch einige Preise. Das betone ich, aber nicht, um mich selbst zu loben und wichtig zu machen, sondern deshalb, weil mir später kein Erfolg größere Freude bereitet hat als dieser erste, auch wenn danach noch einiges für dankbare Freude in mir gesorgt hat. Erfolge waren aber eher eine Belastung für mich, sie brachten mir mehr Schwierigkeiten ein als das Schreiben selbst, wegen dem ich immer Beleidigungen auszuhalten hatte. Ich muss gestehen, dass mich Zurechtweisungen mehr bewegten als Lobhudeleien. Heute grüße ich auf der Straße viel lieber jene, die mich damals kritisierten, als jene, die mich einfach nur lobten. Der Grund dafür ist einfach – Letztere verpflichten mich zur Höflichkeit.
    In meinen Zagreber Jahren war ich ständig in wichtige Debatten und irgendwelche Diskussionen mit den Leuten vom Film verwickelt. Und während ich in der Stadt herumging, in Cafés und Wirtshäusern ein bekannter Gast wurde, trieb mich die Vorstellung, irgendwo in dieser Stadt meine Lehrerin Jozipa zu finden, vielleicht saß sie ja gerade an einem der Nachbartische, stellte ich mir vor, oder ich war nur einige Augenblicke vorher auf der Straße an ihr vorbeigelaufen, ohne sie erkannt zu haben. Unzählige Male habe ich draußen im Gewirr der Straßen gedacht, »na bitte, da ist sie ja«, und war kopflos einer fremden Frau hinterhergerannt. Einmal habe ich einer hübschen Dame den Namen Jozipa nachgerufen, ich war mir mehr als sicher, dass sie das sein musste, und solche Missverständnisse produzierte ich am laufenden Band, einige jener Frauen, denen ich irrtümlich nachgelaufen war, verübelten mir meine Verfolgungen sehr.
    In einer Fachzeitschrift bin ich einmal auf einen Text über eine spezielle Lagerung von Schmetterlingen in entomologischen Schachteln gestoßen, der mit dem Kürzel J. B. unterschrieben war. Als ich das erste Mal in Zagreb das Museum für Naturkunde besuchte, nahm ich einen kleinen Prospekt mit, weil ich das Titelbild mochte, später habe ich ihn immer mit mir herumgetragen und auch als Lesezeichen benutzt. Ich hatte den

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