Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
weg in Richtung des schmiedeeisernen Tores. Ob mein Onkel ein Agent, ein Provokateur, ein Berater, ein Lehrer, politischer Instrukteur, ein Denunziant, ein Handlanger der Kominform-Resolution war – das allein kann nur der Himmel wissen. Er war zehn Tage in der Villa, ohne auch nur einmal seine Verwandten aufzusuchen.
Vaters Freunde, der alte Dr. Kesler, der Schuhmacher Karlo Bloudek und der einstige Leiter der Agrar-Bank, ein Nachfahre der städtischen Familie Marko Gucetić, saßen bei offenem Sonnenschirm vor unserem Laden und ich bediente sie nach der Anordnung meines Vaters. Ich kann mich gut an die Worte des Bankiers erinnern. »Mit einem ordentlichen Beruf hat dieser Zirkus nichts zu tun.« Danach fing er ein Gespräch über meinen Onkel an. Was war das eigentlich für ein Mensch, der seine nächsten Verwandten mied, konnte es solche gefühllosen Menschen überhaupt geben? Würde er noch seine Mutter und seine Schwester besuchen kommen? Vater verteidigte zur Verwunderung der anderen seinen Bruder; wir konnten ihn lieben oder hassen, für was auch immer wir uns entschieden, er war immerhin der Einzige, der sich in kein Schema zwängen ließ, und man musste zugeben, dass ein solcher Mensch unbestechlicher in seinem Blick war als die anderen. Die Frage, ob er nicht von der kommunistischen Doktrin infiltriert gewesen sei, war durchaus legitim und das Wort Dogma konnte man berechtigterweise ebenso in den Mund nehmen, wenn einem dieser Begriff mehr zusagte, da gibt es bekanntermaßen Finessen, die Menschen benennen gerne ein und dieselbe Sache unterschiedlich; und nicht einmal das absolute Böse hat einen eindeutigen Namen.
Seitdem der Onkel unsere Stadt in Aufruhr versetzt hatte, waren zehn Tage vergangenen, wir hatten uns schon damit abgefunden, dass er uns verraten und sein Versprechen vergessen hatte; es tat uns leid, dass er nicht vorbeigekommen war, uns nichts über sich erzählt hatte, nichts über all das, was hier geschah. Ohne ihn konnten wir nicht wissen, wohin all das führte, wir hörten einfach nur allerlei von den Leuten, vor allem von denen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Panik zu verbreiten. Dann erschien ein paar Tage später ein Ausländer in unserem Laden, sprach mit einem fremden Akzent und bestellte sich ein Getränk. Er saß lange vor einem Gläschen Schnaps, saß dort wie ein gebrochener Mann, dann sagte er zu meinem Vater, von heute an sei es verboten, den Namen Stalins zu sagen. Mein Vater hat ruhig, wenn nicht sogar verächtlich erwidert, dass er ihn noch nie erwähnt habe, nicht früher und nicht jetzt, er habe auch nicht vor, ihm eine Träne hinterherzuweinen, genauso wie er sich nie an ihm habe freuen können. Was hatte er überhaupt mit uns zu tun, dass er verboten werden konnte oder geliebt worden war? »Das ist ein fremder Mensch und er wohnt in einem fremden Land, mein lieber Kamerad.«
Der Gast hatte meinen Vater dazu gebracht eine fünfminütige Tirade abzufeuern. »Es macht überhaupt keinen Sinn, den Königen hinterherzuweinen, sie sind weder Freunde noch Verwandte«, sagte mein Vater. Und wer weiß, was er noch alles von sich gegeben hätte, wenn nicht mit einem Mal Milizionäre herbeigestürmt wären, die den unglücklichen Fremden packten, während sie mit Pistolengriffen auf seinen Kopf einschlugen. Wer dieser Mann war, haben wir aber nie erfahren.
Allen Enttäuschungen der letzten Jahre zum Trotz hofften wir noch immer, dass Anđelko uns besuchen würde, im Grunde erwarteten wir ihn Tag und Nacht, rannten bei jedem Geräusch nach draußen vor das Haus, entweder Mutter oder ich. Vater blieb zurückhaltend; selten unterlief ihm irgendeine Art von Euphorie, obwohl wir in diesen Tagen kaum von etwas anderem als vom Onkel sprachen, jeden Tag, sogar mehr als in der Nachkriegszeit. In diesen Gesprächen waren wir uns darin einig, dass die Zeit »Flügel« hat, und es kam vor, dass er erst gestern noch ein kleiner Junge und frech wie ein Teufel war. Meine Mutter betonte immer wieder, dass Anđelko ein guter Mensch war; diese Bemerkungen von ihr entbehrten jeglicher Grundlage, deshalb zwang sie Vater geradezu, ihr bissige und ironische Antworten zu geben, sie hörte seine üblichen Vorwürfe, es war das alte Spiel, er beschimpfte sie, sagte, dass sie in Luftschlössern lebte, die nichts mit der Wirklichkeit gemein hatten.
Unser Warten hatte sich aber gelohnt, denn eines Morgens fuhr eine schwarze Limousine vor unser Haus, sie versperrte geradezu den Eingang zu
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