Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Raum entstanden, prompt fingen Mutter und ich an zu weinen; ich hielt die Hand meines Onkels und begleitete ihn bis zum Wagen. Der Fahrer wartete im Auto, es hatten sich schon eine Menge neugieriger Leute um ihn versammelt. Als Anđelko eingestiegen war, fuhr die Limousine sofort an und ich stand an der Tür und winkte meinem Onkel nach. Er winkte zurück. Ein paar Kinder rannten dem Wagen hinterher, um den Geruch von Benzin einzuatmen. Eine dicke Frau stand am Straßenrand und wickelte ihr Gesicht noch tiefer in ein Tuch ein, um sich so vor dem Staub zu schützen. Nur unser Taugenichts Ibrica, der gleichsam unser Inventar war, sah nicht einmal dem Wagen hinterher, er saß am Tisch vor dem Laden und las vertieft in einer Zeitung. Nichts konnte ihn ablenken, nicht einmal ein tragischer Unfall vor seiner Nase hätte ihn bewogen, den Kopf zu heben.
Jeden Morgen kaufte Ibrica am Kiosk eine Tageszeitung und klemmte sie sich unter den Arm, um sich dann zu unserem Geschäft aufzumachen, er nahm Platz, trank über eine lange Zeit hinweg seinen ersten Morgenschnaps und einen Kaffee, guckte stundenlang in die Zeitung, in der er mit angefeuchtetem Finger wie kein anderer Leser blätterte. Viele Passanten, die ihn kannten, fragten im Vorbeigehen, was denn in der Zeitung so zu lesen sei, und er antwortete liebenswürdig, nachdenklich und kühl, und manchmal schwieg er einfach nur.
Die ganze Geschichte über Ibrica bringe ich hier als Kuriosität ein, denn er konnte überhaupt nicht lesen. Die Zeitung kaufte er eigentlich meinem Vater und gewöhnte sich an, sie immer »vor ihm« zu lesen. Auch mein Vater fragte ihn manchmal humorvoll, was es denn »Neues« gebe, ob wir denn »einen Krieg zu erwarten« hätten, und Ibrica ließ sich weit und breit über alles aus, was er »gelesen« hatte; viele Male traf er voll ins Schwarze, seine Erzählungen deckten sich mit dem, was wirklich in der Zeitung stand. Und mein Vater bezahlte ihn für diesen Gefallen immer auf die gleiche Weise.
»Das hier, mein Ibrica, gebe ich dir für die Zeitung, das hier für deine Reiseausgaben, für das abgenutzte Schuhwerk und die überstandene Angst, dass dir niemand die Zeitung unterwegs geklaut hat. Ist das gerecht oder nicht?«
»Nein«, sagte dann Ibrica.
»Warum denn nicht?«
»Und was ist mit dem Zuschlag fürs Lesen? Wer bezahlt mich denn für meine Lesezeit, die ich für dich großmütig investiert habe?«
»Wie konnte ich denn diesen wichtigen Posten vergessen!«, stieß mein Vater dann freudig aus und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Eine Woche nach dem Fortgehen meines Onkels Anđelko wurde Viktor Bloudek verhaftet und auf die Gefangeneninsel Goli Otok gebracht. Dort kam er 1951 auf tragische Weise ums Leben. Noch sechs weitere Leute wurden damals verhaftet, alles Menschen, die mit Anđelko zu Abend gegessen hatten. Meinen Onkel habe ich nie wieder gesehen, aber Geschichten habe ich über ihn gehört, viele Geschichten, die einander alle widersprachen. Es sieht so aus, als würde sein Umzug nach Paris der Wahrheit am nächsten kommen, da sei er Konsul geworden, habe eine Französin aus Reims geheiratet und sich nach etwa zwanzig Jahren Arbeit im Diplomatischen Dienst ganz aus dem politischen Leben zurückgezogen, um ein Import-Export-Unternehmen zu gründen. Es wird erzählt, dass er heute mit seiner Ehefrau und seinen vier Kindern immer noch in Frankreich lebt. Seine Nachkommen sprechen nicht seine erste Sprache und sie tragen den Nachnamen ihrer Mutter. Ich weiß nicht mehr, wann mir das alles zu Ohren gekommen ist und wer es erzählt hat, ich habe es nicht mehr auf seine Richtigkeit überprüft, auch nicht nach ihm geforscht und ich habe auch nicht in Reims herumgelungert, um ihn zu finden. Er hat mich einfach nicht interessiert, und wenn wir uns getroffen hätten, dann weiß ich gar nicht, was wir wohl miteinander angefangen hätten – denn er hatte seine guten Gründe, sich gänzlich von seinen Wurzeln und seinem Familienstammbaum zu lösen. Hatten das Gleiche nicht auch schon seine Brüder Nikola und Blago getan, die er nie zu Gesicht bekommen und über die er nie etwas Näheres erfahren hatte? Hatte ich mich nicht genauso wie er und wie seine Schwester Mila verhalten? Manchmal denke ich, das Abstandhalten sei unsere markanteste Charaktereigenschaft und unsere Blutlinie zwinge uns geradewegs dazu, uns voneinander zu entfernen. War nicht auch mein Vater sein Leben lang Tag für Tag auf der Flucht vor sich selbst
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