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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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vertrieben wurden, gingen an jenem Tag offiziell in Staatsbesitz über. Man eröffnete daraufhin einen staatlichen Genossenschaftsladen im Erdgeschoss des einstöckigen Hauses, in dem die Paranos-Brüder lebten. Der Laden bekam den Namen Gemischtwarenladen Nummer 2 . Das ist alles, was ich zur Abschaffung von Privateigentum und der Enteignung meines Vaters zu sagen habe. Es war nichts anderes als die Pfändung von fremdem Besitz. Obwohl das für uns sehr schmerzhaft war, und zwar nicht nur deshalb, weil wir überhaupt nichts mehr besaßen, was uns hier und dort über die Runden geholfen hatte, sondern vor allem deshalb, weil es eine Erniedrigung war. Unsere alte Kundschaft wurde schadenfroh, auf der Straße mussten wir uns Zurufe wie jene nach dem Preis der Orangen gefallen lassen, ich habe weder damals noch jetzt beim Schreiben begriffen, warum sie uns so behandelt haben; zudem hatten wir zu Zeiten des Ladens ganz selten Orangen im Angebot, aber vielleicht war genau diese Frucht in ihren Augen das Zeichen für Wohlstand und Fülle.
    In die Schule kam mit jedem Schüler mindestens ein Elternteil mit zur Zeugnisvergabe, nur ich wurde von niemandem begleitet, und als die Lehrerin meinen Namen ausrief und sagte, dass ich mit gut bestanden hatte, antwortete ich bissig: »Ich habe bessere Noten verdient.« »Warum konnten deine Eltern nicht kommen? Das hier ist ein großer festlicher Moment, ein besonderer Tag für jeden Schüler und für alle Eltern. Wenn schon die Mutter nicht mitkommt, warum hat dein Vater den Weg nicht auf sich genommen?«, fragte sie. »Man hat ihn verhaftet«, sagte ich. »Heute haben sie uns das Geschäft dichtgemacht.«
    Für einen Moment waren alle still geworden; alle Schüler sahen in meine Richtung. Ich hielt mich ganz passabel und redete mir ein, dass schon niemand die Tränen auf meinem Gesicht sehen und nichts von meiner Niedergeschlagenheit bemerken würde, ich mimte den Fröhlichen und übertrieb es natürlich damit. Es ist nicht leicht, in einem solchen Zustand das rechte innere Maß zu bewahren. Erst als alle auseinandergegangen waren, ging ich zum Lehrerpult, um mir mein Zeugnis abzuholen. Die Lehrerin und ich waren allein im Klassenzimmer. Sie betrachtete mich herausfordernd und dann schallte ihr schönes Lachen durch den Raum. Ich liebte sie wieder und hatte ihr verziehen, dass sie sich damals auf die Seite des Inspektors geschlagen und mich in die Erziehungszelle gesteckt hatte. Als ich am Pult stand und darauf wartete, dass die Lehrerin mein Zeugnis unterschrieb, spürte ich die Zuneigung, die ich schon immer für sie empfunden hatte, und zeitgleich auch den verwegen süßen Wunsch, meinen Kopf zwischen ihre Brüste zu stecken, die sich wie zwei magische kleine Nester unter ihrer leichten Seidenbluse hoben. Und als sie dann einen Knopf öffnete, glaubte ich, dass sie Lust auf mich hatte. Mir kam es so vor, als wäre ich nicht nur durch unsere Nähe, sondern auch durch die zwischen uns entstandene Distanz reifer, ja vielleicht sogar schneller erwachsen geworden. Und die erotischen Karten hatten mir letztlich doch ein bisschen dabei geholfen und mir Selbstvertrauen eingeflößt. Ich fühlte mich wie ein erfahrener Bursche. Als sie das Zeugnis unterschrieb, fragte sie:
    »Haben wir uns versöhnt?«
    »Haben wir«, sagte ich.
    »Ich musste mich so verhalten, wie ich mich verhalten habe«, sagte sie. »Sie sehen in mir ein schwarzes Schaf und beschuldigen mich, dass ich Schüler verführe. Das ist eine Lüge. Ich weiß, warum sie das tun. Ich werde nicht mehr lange in dieser Gegend bleiben, du wirst der Einzige sein, der mir fehlen wird, aber du wirst bald flügge werden, mein Lieber, und auf und davon fliegen. Gott allein weiß, ob sich unsere Wege je wieder kreuzen werden. Wenn es uns vorherbestimmt ist, dann wird es so sein. Und jetzt komm mal her und umarme mich«, sagte sie.
    Sie saß auf dem Stuhl hinter dem Lehrerpult, drehte sich um, wollte mich in den Arm nehmen, ein bisschen öffneten sich ihre Knie dabei und ich schmiegte mich wie ein Liebender an sie. Voller Hingabe umarmte ich sie und freute mich, endlich in die Nähe ihrer Brüste gekommen zu sein, drückte mich noch ein bisschen fester an sie, küsste hastig ihren weißen Hals und steckte meine Nase in ihr wohlriechendes Haar. Das werde ich im Leben nie vergessen, es war das Aufregendste, das ich je erlebt habe. Wir blieben lange so in der innigen Umarmung beisammen, dann stand Jozipa auf, streichelte mich ein, zwei Mal,

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