Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
der Rückkehr in seine Geburtsgegend empfand, das Pferd bekam einen neuen Herrn und eine neue Hand, die ihn treu fütterte. Jene abgetrennte Menschenhand unter dem Wagen war also nicht aus heiterem Himmel an jene Stelle gefallen, an die mein Vater trat, denn jeder, der die Heimat verlässt und der sich ihr nach Jahren der Abwesenheit nähert, muss ein neues Abkommen mit ihr schließen. Die Gültigkeit der alten Koordinaten ist in der Regel für immer verjährt. Vielleicht war diese Hand eine Art symbolisches Friedenschließen mit der Vergangenheit, gerade deshalb weil sie abgehackt im Staub lag. Aber wer kann schon wissen, was in solchen Momenten alles mystifiziert wird, was man sich an Bedeutungen einredet und was letzten Endes von wirklichem Belang ist?
Ein Haus, in das wir nach langer Zeit zurückkehren, davon war mein Vater überzeugt, kann sich nicht mehr an uns erinnern, auch ist es ihm gleichgültig, dass wir selbst keinen seiner Winkel vergessen haben. Deshalb glaubte er, dass man vor allem sein Geburtshaus niemals auf direktem Wege betreten darf, sondern dass man es erst umkreisen und Ausschau nach Vertrautem halten muss, um zu sehen, ob noch immer jemand da ist, der für uns die Petroleumlampe anmacht und uns die Tür öffnet, hinter der wir vertraute Stimmen hören. Aber eine solche Rückkehr ist das Entblößende, das Zerbrechliche an sich.
10
Vater schlich sich an die von der Tagessonne noch immer gewärmte Steinwand des Hauses heran, er trat über die Schwelle und sah sich im Speisezimmer um. Es lag schon im Schatten und die aufkommende Dunkelheit war zu erahnen. Das vom Tage übrig gebliebene Licht fiel behäbig durch das Fenster hinein, im Westen sah man, wie die noch vor wenigen Augenblicken sichtbare Abendröte von einer finster aufgeschichteten Wolkenfront verschluckt wurde. Übrig blieb nur noch der Horizont, er schien aber vom purpurnen Glanz und vom Rot des Sonnenuntergangs wie versteinert zu sein und so zur Ewigkeit verdammt. Was war in der Zwischenzeit alles geschehen? Weshalb hörte man das Läuten der Abendglocken nicht mehr? Sie waren schon eine Weile verstummt, ab dem zweiten Kriegsjahr hatte man sie nicht mehr gehört. Die Glocken waren damals einfach heruntergenommen und zu Kanonenfutter umgeschmolzen worden. Irgendwo in der Ferne machte ein Steinkauz jetzt auf sich aufmerksam, und in der Nähe der Eingangstür, aus dem Magnoliendickicht, flog ein Vogel auf. Im Stall wieherte das Pferd. Vater hatte es dort angebunden und wollte eine Handvoll Hafer oder irgendein anderes Futter für das Tier auftreiben. In der Luft lag besagter Heimatgeruch, und hinter den großen Johannisbaumkronen war bereits der Mond zu sehen, er war noch bleich, richtig leuchten konnte er ohne die vollmundige Dunkelheit noch nicht. Die Nacht, seine alte Verbündete, verdichtete sich mehr und mehr, still legte sie sich über die Landschaft. Vater fand seine Mutter über eine Petroleumlampe gebeugt vor. Sie hatte das Lampenglas zur Seite gestellt, das Lichtgarn in die Länge gezogen und den Docht mit einem Streichholz angezündet, dann das Lichtgarn gleich etwas eingedreht, damit das Flämmchen so klein wie möglich blieb und langsam unter dem Glashäubchen vor sich hinglimmen konnte. Die Lampe stand auf dem kleinen Tisch, die Mutter saß auf dem Boden, neben einer Wiege, in der auch schon mein Vater als Kind gelegen hatte. Es war eine schöne mit Schnitzereien versehene Wiege, die irgendwo im dalmatinischen Hinterland gekauft worden war. In ihr hatten alle Kinder unserer Familie gelegen, auch jene, die früh gestorben waren. Die Kleinen kamen einer nach dem anderen fast jährlich zur Welt, und automatisch bekamen sie in dieser Großfamilie nicht nur die Wiege vererbt, sondern auch alle Lumpen, Windeln, Schnuller, Kleider, Rasseln und Spielsachen, die sich erhalten hatten. Während Vukava die Wiege hin und her bewegte und ein Schlaflied vor sich hinnäselte, stand mein Vater im Schatten des Vorraumes und machte sich zaghaft bemerkbar, um seine Mutter nicht zu erschrecken. »Ich kann dir eine schöne Nachricht überbringen und dir sagen, dass dein ältester Sohn bald nach Hause kommen wird«, sagte er, »und für diese kleine Prophetie könntest du mich hier über Nacht aufnehmen.« Vukava zog den Docht in der Lampe hoch, um das Zimmer zu erhellen, dann stand sie auf, hob die Lampe in Stirnhöhe, um den Besucher, der genau genommen ein Eindringling war, besser sehen zu können.
»Grundgütiger! Wie danke ich
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