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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Schwester. »Mit ihm ist auch eine Epoche zu Ende gegangen. Wir müssen uns für unsere bösen Taten schämen und nicht für unsere Schönheit oder Hässlichkeit. Das Alter, wenn wir überhaupt alt werden, wird ohnehin beizeiten jeden von uns entstellen. Und wir müssten dann alle einen Schleier tragen. Du kannst das Tuch abnehmen«, sagte er. Sie aber schreckte davor zurück. »Mein Vater hat angeordnet, dass ich mich bedecken soll, und das werde ich auch bis ans Ende meiner Tage tun.« Vater konnte seine Schwester Vesela nicht überzeugen. »Es ist eben schwierig, alte Gewohnheiten abzulegen«, sagte mein Vater, als er mit mir darüber sprach und mir erzählte, wie er den Versuch unternommen hatte, seine Schwester aus ihrer Knechtschaft zu befreien. Ihr Leben war das einer Gefangenen, aber sie hatte sich daran gewöhnt, hatte gelernt, sich in ihrem Gefängnis einzurichten. »Aber auch Ketten fangen irgendwann an zu rosten«, sagte Vater, »und die Arme hat dann schließlich im Alter von dreiundzwanzig Jahren den Schleier abgenommen. Und nicht nur das, sie lief plötzlich halbnackt durch die Gegend«, sagte er.
    Ich liebte es sehr, das hässliche Gesicht meiner verstoßenen Tante Vesela zu betrachten. Eigentlich wusste ich gar nicht, warum es mich so sehr faszinierte, aber ich schlich mich immer an sie heran und brachte ihr Bonbons und andere Süßigkeiten. Am meisten von allen liebte sie Turkish delight . Ich blieb oft und lange bei ihr, sah mir ihr Gesicht dabei genau an und erzählte ihr einen Unsinn nach dem anderen. Sie liebte meine Gesellschaft und erlaubte mir, dass ich die Schwielen an ihren Händen berühre, ihre Finger und auch die Warzen, die quer über ihr Gesicht verteilt waren. Ich zupfte ihr sogar ab und an die kleinen Härchen weg, die aus den Muttermalen herauswuchsen. Einmal habe ich sie überreden können, mir ihre Brüste zu zeigen. Ich war damals elf Jahre alt und sie schon in den mittleren Jahren. Oft küsste ich sie aus dem Nichts heraus, das rührte sie, sie senkte dann den Blick und fing an zu weinen. Wenn es für etwas hundertprozentige Sicherheit gibt, dann dafür, dass ich der Einzige aus unserer Verwandtschaft bin, der sie je geküsst hat. Ich weiß nicht, was es mit diesen Gefühlen für meine Tante auf sich hatte, ich erlag einer seltsamen Faszination für ihre Hässlichkeit, was dabei aber genau eine Rolle gespielt hat, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, eine merkwürdige Neigung war es in jedem Fall. Mein Mitgefühl für sie, dessen bin ich mir durchaus bewusst, musste eigenartig angemutet haben, es grenzte bestimmt auch an Perversion, jedenfalls hatte es etwas Erregendes für mich. Meine arme Tante! Über sie werde ich noch das eine oder andere sagen müssen und es auch tun, wenn die Zeit dazu gekommen ist.

11
     
    Am ersten Tag nach seiner Rückkehr ging mein Vater nahezu den ganzen Vormittag im Ort umher, suchte alle Verwandten auf, sprang zur Begrüßung bei Nachbarn ins Haus, lugte bei dem einen oder anderen Freund hinein, ließ sich selbst von jenen willkommen heißen, mit denen Großvater Mato zerstritten gewesen war. Es war die Zeit der Aussöhnung gekommen, Nachkriegszeiten bringen das mit sich. Es wuchsen viele junge Menschen heran, aber noch mehr waren gestorben. Die Einwohnerzahl von L. war fast bis auf die Hälfte geschrumpft. Jene, die mobilisiert worden waren, befanden sich noch immer an den Kriegsfronten, aber überall sprach man schon vom Ende des Krieges und verlieh seiner Freude Ausdruck, indem man Gewehrsalven in den Himmel feuerte. Der Friedhof war voll von kürzlich Verstorbenen, manche Gräber waren anonym, die Mehrzahl von ihnen war jedoch flankiert von grob geschnitzten Kreuzen, auf denen die Namen der Toten standen, geschrieben mit ungeübter Bauernhand.
    Auf der Wiese hinter der Kirche entstand ein neuer Friedhof, neben dem Hügel, in einer Reihe, nur mit in die Erde gestampften Kreuzen, auf denen wiederum sehr selten Namen zu finden waren. An der Mehrzahl der Kreuze hatte man Bleitäfelchen befestigt, versehen mit Zahlen und irgendwelchen Symbolen, die Dinge darstellten, die den Toten etwas bedeutet hatten. In Erinnerung an die Kämpfer legte man auch das eine oder andere Gebetsbüchlein dazu, Suren aus dem Koran, damit die Gräber auch diese Erinnerung bewahrten. Am Kreuzende hatte man Kugeln und Schießpulver mit in die Erde gesetzt, kleine Kreuze und Anhänger mit dem Bildnis der Mutter Gottes waren zu sehen, es hingen auch Pferdehufe dort, ja

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