Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
andeuten konnte, weshalb ich ihn dann auch nicht weiter bedrängte, mir mehr darüber zu sagen. Ich spürte, dass für ihn mit der Narbe etwas Schmerzliches verbunden war. Jeder von uns hat eine solche Narbe, kaum einer schafft es, sich gänzlich ungeschützt anderen Menschen zu offenbaren.
Nachdem er Griechenland verlassen hatte, hat er die meiste Zeit allem Anschein nach in Albanien verbracht, in Skutari, bei katholischen Albanern, die fleißige Leute waren und vom Fischfang lebten. Sie hatten sich auf die Ausfuhr eines winzigen Fisches spezialisiert, den sie ukljeva nannten und der nur in ihrem See vorkam. Es handelte sich bei seinen Gastgebern um eine sechzehnköpfige Familie, zwei von ihnen sprachen sehr gut montenegrinisch, das erleichterte meinem Vater den Aufenthalt in ihrem Haus. Sie hatten ihn freundlich aufgenommen und er blieb viel länger bei ihnen, als er es geplant hatte. In den ersten Wochen verarzteten sie seine eiternde Wunde, zusätzlich plagten ihn Fieber und Schüttelfrost. Ein paar Pflanzen aus dem Skutari-See erwiesen sich bei dieser Gelegenheit als heilsam. Die Männer dieser riesigen Familie verbrachten zwischen September und März ihre Tage und Nächte auf dem See, sie waren immer auf der Suche nach diesem winzigen Fisch, obwohl sie das ganze Jahr über völlig mühelos alle anderen Fischarten wie Aal, Forelle, Karpfen oder Goldbutt fangen konnten.
Um sich in der Zwischenzeit Geld für seine Miete zu verdienen, verkaufte mein Vater ihren Fisch auf dem Markt, lernte dabei einige hundert albanische Wörter und Zahlen, er legte das Geschick eines richtigen Händlers an den Tag und kehrte am Abend immer mit gänzlich leeren Körben nach Hause zurück, sodass ihm eines Tages das Familienoberhaupt sagte, seitdem er da sei, hätte man regelrecht Sehnsucht nach dem eigenen Fisch, weil er ihn immer vollständig verkaufe. Noch nie war es mit dem Verkauf der Fische so gut gegangen wie bei ihm, und irgendwann unterzogen die Albaner die Angelegenheit einer Prüfung. Man schickte anstelle meines Vaters andere Verkäufer auf den Markt, um zu sehen, ob auch sie eine magische Hand hatten. Aber den anderen gelang es nicht einmal, die Hälfte des Fischbestandes zu verkaufen. Dem Aberglauben seiner Vermieter war es zu verdanken, dass mein Vater seinen Aufenthalt in Skutari verlängern musste. Bald schon fing man an, ihm mit Heiratsideen auf den Leib zu rücken. Sie wollten ihn um jeden Preis bei sich behalten, aber er dachte nicht daran, sich darauf einzulassen. Am Ende spitzte die Lage sich ungemütlich zu und sie ließen ihn nicht fortgehen. Das wurde zu einer richtigen Tortur für Vater. Sie drohten ihm regelrecht, sagten ihm direkt ins Gesicht, er würde erst gehen dürfen, wenn man es ihm erlaubte. Sein Aufbegehren half nichts. Wenn der Fischverkauf schlechter war als sonst, warfen sie ihm vor, sie zu sabotieren, um sich davonmachen zu können. Er versuchte auch zu flüchten, aber sie schnappten ihn irgendwo unterwegs und warfen ihn in einen Verschlag, in dem er über einen Monat lang gefangen gehalten wurde, bis er sich breitschlagen ließ, ihren Fisch wieder auf dem Markt zu verkaufen. Jedoch musste er ihnen zuvor versprechen, nicht mehr abhauen zu wollen.
Erst am Ende des Krieges gelang es ihm endlich, nach Cetinje zu gelangen. Auch dort blieb er länger als geplant, ganze zwei Monate, dabei wollte er nur über Nacht bleiben. Man nahm ihn in dieser Stadt auf, als sei er dort groß geworden. Irgendein Martinović, ein Kadett der Unteroffiziersschule von C., behandelte ihn wie einen Bruder, bei ihm wohnte und aß er, obwohl um sie herum Mangel und Not herrschten. Die Eltern dieses Mannes kümmerten sich um meinen Vater wie um ihr eigenes Kind. Am Ende fanden sie sogar heraus, dass sie miteinander verwandt waren. Beide Familien schienen vom weiblichen Zweig der Vujovićs abzustammen, und auch ich bezog mich später, als ich in Belgrad lebte und mit den Brüdern Martinović befreundet war, auf diesen Familienzweig. Montenegro übte auf mich die gleiche Anziehungskraft aus wie auf meinen Vater, es galt als »ruhmreich gefangen in Mythen«, so hat es jedenfalls einmal ein montenegrinischer Dichter beschrieben, dessen Verse ich gerne nachahmte, von denen aber nichts mehr in meiner Sprache übrig geblieben ist. Meine Faszination für Montenegro dauerte so lange an, bis wir in die Stadt N. gezogen waren. Hier bekam mein Vater eine Anstellung als kleiner Beamter im Amt für Forstwirtschaft. Vom ersten
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