Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
am Tisch sitzen; sie sprachen über vieles, leicht war es wohl für beide nicht, die vielen ihnen widerfahrenen Verluste zu akzeptieren, und sie weinten auch, vor allem, als die Rede auf Großvater Mato kam. Sein Tod schmerzte sie sehr. »Weil wir nicht einmal wissen«, sagten sie fast zeitgleich, »wo er begraben ist.«
Ich teilte und teile noch heute die Ansicht meines Vaters, der davon gesprochen hat, dass die Erinnerung an Tote, an jene Toten, die wir geliebt haben, schmerzhafter ist, wenn wir ihre letzte Ruhestätte nicht kennen. In unserer Fantasie reihen wir ein abstraktes Bild an das andere und wundern uns oft, wie geduldig das Schicksal die Fäden im Verlauf eines Lebens gesponnen hat, keiner konnte aber wissen, dass mein Großvater in einem kleinen österreichischen Städtchen auf einem Lagerfriedhof enden und das ausgerechnet ihm passieren würde, einem Menschen, dem so sehr an seiner heimatlichen Feuerstätte gelegen war, der seine Geburtsgegend wie geheiligtes Land liebte und davon träumte, ein großes Familiengrabmal errichten zu lassen, sogar an ein Mausoleum hatte er gedacht, auf dem Hügel, direkt über dem Haus in L.
Als Tante Vesela, die hässliche Schwester meines Vaters, die gedämpfte Stimme des Rückkehrers im Haus hörte, schlich sie aus ihrem Dachsloch, ging zum Fenster und betrachtete den Mann lange. Er stand im Widerschein der Lampe und sein Körper bildete einen großen Schatten, der jenen Teil des Zimmers verdunkelte, in dem die gerahmten alten Familienfotos hingen. Nur sie war in dieser Galerie nicht vertreten, weil man sie nie als lebendigen Teil dieser Gemeinschaft akzeptiert hatte. Mein Vater zog den Docht noch etwas mehr in die Höhe, um die Flamme zu verstärken und sich eine Zigarette anzuzünden. Rauchend ging er umher, während sich sein Schatten von der einen zur anderen Wand brach und wie ein böser Geist am Plafond abzeichnete. Durch das geöffnete Fenster, unter dem Tante Vesela in der Hocke saß, waren die Frösche vom Fluss zu hören. Immer öfter trat Vater ans Fenster und blieb dort stehen. Er atmete, so hatte er es selbst ausgedrückt, »die Luft ein, die die Seele heilt«. Dann stand seine Schwester auf, murmelte etwas Undeutliches, und Vater rief sie herein, damit sie ihren Bruder begrüßte.
Vesela rannte gleich zu ihm, griff voller Freude nach seiner Hand und überdeckte sie mit Küssen. Für sie war das ein großes Ereignis, und sie blieb bei Bruder und Mutter, setzte sich an die Wiege, um ihren jüngsten Bruder Anđelko zu betrachten. Großmutter Vukava nannte ihn liebkosend ihren kleinen Engel, denn dieses Kind weinte niemals. Er lachte und gluckste, winkte mit seinen Händchen und mampfte mit seinem Mund vor sich hin, warf die Beinchen freudig in die Luft, während die Mutter ihm die Windeln wechselte. Aber nie weinte dieser Engel, nicht ein einziges Mal.
Meine hässliche arme Tante sah ihn stundenlang an und konnte sich an dem Kleinen nicht satt sehen, sie schaukelte seine Wiege hin und her und kümmerte sich um alles, was im Haus anstand. Aber sie behielt dabei immer ihren Bruder, meinen Vater, im Auge, fragte sich, was er zu welcher Situation sagen würde, er war jetzt der älteste Mann im Haus, der Ernährer der Familie. Seiner Meinung würde jeder von ihnen respektvoll begegnen, obwohl er selbst gar nicht darauf aus war. Wenn er je eine Autorität hatte, so hat er sie nie missbraucht. Er hatte aber hier und dort ein paar konfuse Ideen. Sie waren meinem Empfinden nach weder gut noch schlecht, aber von ihrer Unhaltbarkeit konnte ich ihn dennoch nicht überzeugen. Vom Krieg sprach er immer als einem Übel, ein paar Mal auch mit mir, er glaubte, dass Kriege einen Motor in sich tragen, dass sie sogar der Motor neuer Entwicklungen sind, große Veränderungen in Gang bringen und mit ihnen neue Zivilisationen möglich werden. Es ist durchaus wahr, dass Kriege allzu oft viel zu viel Gutes vernichten, aber mit ihnen geht viel mehr Schlechtes zugrunde, die Menschen verändern sich, die Welt profitiert davon, alte Gewohnheiten werden aufgebrochen, auch die im Hinterland liegenden Dörfer erreicht dann endlich etwas Neues. Bei seiner Rückkehr und im Zeichen der neuen Zeit hatte er beschlossen, seiner Schwester den Schleier auszureden und sie aus dem alten Gefängnis des Patriarchats zu befreien, in dem sie, wie er befand, zu Unrecht eingesperrt war.
»Jetzt, da wir unseren Vater verloren haben, musst du dich nicht mehr verstecken«, sagte mein Vater zu seiner
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