Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
dir!«, stieß sie gerührt hervor, »aber ich glaube, mein Sohn hat sein Haus schon betreten.« Und als sie ihm entgegeneilte, um ihn zu umarmen, weinte sie. Sie hatte ihn mehr dem Gefühl als seinem Aussehen nach erkannt. Das ungünstige Licht und mein im Schatten der Dämmerung stehender Vater hatten sie einen Moment lang verwirrt. Dabei wäre es nicht einmal verwunderlich gewesen, wenn sie ihn überhaupt nicht erkannt hätte. Er war früh fortgegangen. In dem Alter, in dem sich junge Menschen ruckartig verändern und schnell erwachsen werden, war sie nicht bei ihm gewesen. Als sie ihre Fassung wiedererlangte, sagte sie zu ihm: »Du bist als Kind von zu Hause weggegangen und als junger Mann zurückgekommen.«
Mein Vater wusste nicht, wem das Neugeborene in der Wiege gehörte. Als er begriff, dass es sich um seinen Bruder handelte, erschrak er, in dem Alter, in dem meine Mutter ist, dachte er, gebar man doch kein Kind mehr. Dann nahm er den Kleinen in den Arm, hob ihn über seinen Kopf hinweg und in die Höhe hinauf. Dieser Krieg brachte Großmutter Vukava ein Übel nach dem anderen, es heftete sich wie Pech und Schwefel an ihre Fersen, und die neuerliche Niederkunft erlebte sie als ein weiteres, eigens ihr zugespieltes Unglück. Und dieses Kind war der einzige Junge der ganzen Sippschaft, über den sich niemand bei uns gefreut hat. Sein Vater, mein Großvater Mato, war in Österreich interniert. An jenem Tag, an dem das Kind das Licht der Welt erblickte, traf ein Telegramm ein. Es hieß, Großvater sei in Gmünd in einem Lager gestorben. Man habe ihn unter einer bestimmten Nummer auf dem Lagerfriedhof bestattet und werde diese der Familie so bald wie möglich mitteilen.
Im Krieg starben auch Vaters Zwillingsschwestern. Die spanische Grippe raffte sie nieder. Im Bezirk und im ganzen Umland breitete sie sich gerade zu dem Zeitpunkt aus, als auch Mila, die jüngere Schwester der beiden, die Familie für immer verließ und mit einem ungarischen Pferdehändler durchbrannte. Er hatte im ersten Bodenregiment von Trebinje gedient. Das warf ein schlechtes Licht auf die hochangesehene Familie, deren Oberhaupt in ein Lager verfrachtet worden war.
Zu allem Übel gingen auch noch Gerüchte um, es handle sich bei dem Neugeborenen um ein uneheliches Kind. Es spielte überhaupt keine Rolle, dass es gezeugt worden war, bevor sein Vater interniert wurde. Es wurde gemunkelt, Vukava habe das Kind von Ivo, dem buckeligen Onkel des Vaters, bekommen. Er war es auch, der dem Kind den Namen Anđelko gab. Nur eine Woche nach der Taufe schnitt sich der Buckelige aber mit dem Rasiermesser die Kehle durch. Das wiederum bestätigte noch mehr die Munkelnden in ihrer Annahme, war es doch unter den Leuten unausgesprochen klar, dass nur der Tod von solchen Sünden befreien konnte.
Die Tochter Vesela war das erste Mädchen, das nach Nikola zur Welt kam. Sie war derart unansehnlich, dass sie nur selten das kleine Räucherhäuschen verließ. Diese Ecke des Anwesens war ihr zugeteilt worden, dort hatte sie immer zu bleiben, und wenn sie doch mal hinausging, war sie dazu verdonnert, einen Schleier zu tragen. Das hatte der eigene Vater angeordnet, der von der brachialen Hässlichkeit ihres Gesichtes angewidert war. Dieses unglückliche Mädchen saß nie mit den anderen an einem Tisch, wenn gespeist wurde. Ihre Mutter stellte ihr das Essen auf den kleinen Tisch neben ihrem Bett. Einmal ertappte Großvater Mato sie ohne Schleier vor dem Haus. Er schrie sie an, und sie bedeckte sich sofort mit den Händen das Gesicht und rannte hilflos davon. Sie konnte weder schreiben noch lesen, selten sprach sie überhaupt ein Wort und sie lächelte eigentlich nie. Wenn sie untertags draußen war, dann suchte sie immer gleich nach einem Schatten und setzte sich dort hin, wo es etwas kühler war. Und wenn im Haus niemand etwas dagegen hatte, blieb sie in der Nähe der anderen, verkroch sich aber stets in den dunkelsten aller Zimmerwinkel. Großvater Mato beschimpfte sie in einem fort. »Menschen wie du«, sagte er, »fallen einem nur zur Last. So etwas wie du lebt am längsten von allen! Gott belohnt offenbar jene, deren Leben von keinerlei Nutzen ist und niemandem Frieden bringt, von Glück gar nicht zu reden.«
So sprach er mit seiner eigenen Tochter, die aber am wenigsten etwas dafür konnte, mit diesem Aussehen und in dieser Familie auf die Welt gekommen zu sein.
Mein Vater blieb in jener ersten Nacht seiner Rückkehr in sein Kindheitshaus lange mit der Mutter
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