Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
Vom Netzwerk:
Augenblick an träumte ich davon, wieder aus dieser Stadt abzuhauen. In einer Chronik heißt es, N. habe nichts anderes als »kalte Winter und kühle Menschen« vorzuweisen. Besser hätte man meine eigene Erfahrung nicht beschreiben können.
    Aber zurück zu der Rückkehr meines Vaters in seine Geburtsgegend: Er kam zu Fuß, es war August, hier und dort wehrten sich einige österreich-ungarische Truppen gegen ihren Abzug, aber in L. war es ruhig, die Armeen waren vorbeimarschiert, die Kämpfe wurden im Hinterland ausgetragen und nicht mehr so stürmisch wie in den Jahren zuvor, denn es schien so, als seien die müden Krieger der einen und der anderen Seite nur noch dabei, ihre Pflicht zu erfüllen. Überall stromerten Soldaten durch die Dörfer. Raubüberfälle und Vergewaltigungen waren noch immer an der Tagesordnung. Viele Gebäude, wie das, in dem die Polizeistation untergebracht war, brannten lichterloh. Unmengen von Menschen aus L., die Österreich-Ungarn noch treu ergeben waren und sich nicht so leicht von dem lossagen konnten, was sie selbst noch bis gestern gewesen waren, brachte man nach Trebinje, manche von ihnen wurden unrechtmäßig verurteilt, vor allem jene, die verdächtigt wurden, österreich-ungarische Auskundschafter zu sein. Unter ihnen fand einer unserer Verwandten, ein Bezirksassessor, ein unglückliches Ende. Er war ein friedlicher und ruhiger Mensch, den man einfach mitten auf der Straße hinrichtete, wo er unbeachtet liegen blieb. Einem Anführer, der alle in Arrest genommen hatte, missfiel der Gang meines Onkels, weil er immer wieder innegehalten und die anderen gestützt hatte.
    Mein Vater war mehrere Stunden zu Fuß auf der »Österreich-Route« unterwegs, das war der Name dieser alten Straße, von der er hin und wieder abwich, um eine Abkürzung zu nehmen. So schnell es ihm möglich war, ließ er die Serpentinen und Abbiegungen hinter sich, er wollte noch am Abend jene vertraute Anhöhe seiner Geburtsgegend erreichen, von der aus man alles im Blick hatte; der Fluss streckte sich vor ihm aus, Flora und Fauna, schlanke Zypressen in der Ferne Richtung Stadt und dichte Wipfel hoher Pappeln in der Nähe des Friedhofs. Auch die weiße Straße sah er, die sich am Fluss entlangschmiegte. Lange schaute er sich die Landschaft an. Dieser Anblick rührte ihn so sehr, dass er dankbar wurde und ein paar Worte zu Ehren seiner Geburtsgegend sprach. Er hatte eigentlich nun keine Eile, im Gegenteil, er versuchte seine Ankunft auf den nächsten Tag zu verschieben. Am liebsten hatte er sich schon früher an einem bestimmten Grabstein ausgeruht, an den er sich auch jetzt setzte und an seine Mutter dachte, an seine Schwester, die in seinen Armen im Alter von zwölf Monaten gestorben war. Er selbst war damals fünf Jahre alt gewesen.
    Viele Male hatte er schon erzählt, wie dieses Kind gestorben war, dass es nach Luft gerungen hatte, als hätte es sein gesamtes Leben einatmen wollen. Aber es wollte ihm nicht gelingen, es schien dies mit seinem letzten Atemzug zu begreifen und schloss für immer die Augen.
    Jetzt lehnte Vater an diesem Grabstein, sah auf die Dächer der Häuser, auf die Glockentürme der Kirchen und die Minarette der Moscheen. Die österreichischen Gebäude hatten keine Dächer mehr, die stämmigen Wände ragten nackt in die Luft und waren schwarz vor Ruß. Sechs schöne Häuser von L., die einst für die Offiziere der österreichischen Armee und die Vorsteher der Grenzwachen erbaut worden waren, hatte man auch in Brand gesteckt. Zehn Kilometer weiter befanden sich die Grenzwachtürme und die Grenze zu Montenegro. Hätte man nicht diese schönen Errungenschaften für die Einheimischen bewahren und zum Verkauf freigeben können? Nein, das war offenbar nicht möglich, der Krieg ist seiner Natur nach irrational, wie hätte man da etwas Logisches tun können. Es sind schönere und wertvollere Gebäude als jene in L. der Zerstörung anheimgefallen, und der einzige Grund dafür war, dass sie von nicht mehr geschätzten Händen erbaut worden waren und natürlich, weil in ihnen unerwünschte Menschen lebten. Im Namen der Vergeltung wurde willkürlich zerstört. Dies ist eine Disziplin in Zeiten des Krieges. Sie wird bereitwillig mit vulkanesker Leidenschaft ausgeführt. Der Krieg ist ein Sammelbecken für negative Leidenschaften.
    Vater wurde auf seinem ganzen Weg von Aasgeiern verfolgt, sie geiferten und kreisten umher, nahmen Tierkadaver ins Visier und schnappten sich mit ihren Schnäbeln

Weitere Kostenlose Bücher