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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Fleischstücke aus den toten Leibern heraus. Der Geruch sich zersetzenden Aases breitete sich in seinen Lungen aus, am Rande der Straße hing ein umgekippter Pferdewagen förmlich in der Luft. Nur eine Berührung hätte genügt, um ihn in den Abgrund stürzen zu lassen. Vater blieb dennoch bei diesem Wagen stehen und brachte ein Rad zum Drehen und starrte einen Augenblick lang drauf. Vielleicht hätte er das Rad noch einige Male angestoßen, wenn er nicht unter dem Wagen eine einzelne Menschenhand erblickt hätte; sie lag auf der Erde, im Staub, mit der Innenfläche nach oben, so als bettle sie und warte darauf, dass ihr durch einen Vorbeigehenden Güte zuteil wurde. Mein Vater versuchte seit jeher mit allem, was ihn erschütterte und in Schrecken versetzte, humorvoll umzugehen, deshalb sprach er murmelnd zu sich selbst: »Ach Gott, wer hat denn hier seine eigene Faust liegen gelassen?« Vor ihm, auf der Erde, weit entfernt vom dazugehörigen Körper, lag diese Hand wie ein Symbol für das Ende einer Handlung, ein Symbol für das Prinzip von Geben und Nehmen, eine wie ein Bein ins Stolpern geratene Hand, da lag sie auf der blanken Erde, am Ende einer blutigen Epoche, in einer Zeit, die sich durch die Abwesenheit von Barmherzigkeit, Vergebung und Mitgefühl auszeichnete.
    Wer weiß, zu wem die Hand gehört hatte, und wer weiß, auf welche Art sie vom dazugehörigen Körper getrennt worden war und ob man den Körper tot oder lebendig von der Stelle des Geschehens entfernt hatte. »Diese Hand wird«, murmelte mein Vater vor sich hin, »nie wieder eine Waffe benutzen. Aber sie wird auch nie wieder einen Menschen streicheln können.« Dann ging er weiter.
    Und während er die Straße entlangging, hörte er plötzlich hinter sich den Klang von Pferdehufen, drehte sich um und sah ein Pferd, das ihm langsam hinterhertrappelte. Das Getrappel war nicht so klar und deutlich wie sonst zu hören, das Tier war nicht behuft, sodass man nur den dumpfen Nachhall seiner Schritte auf dem festen Schotter vernahm. Es war kein einheimisches Pferd, kein Bergtier, sondern ein hohes ausgemergeltes, mit langen Beinen, ohne Sattel, mit einem Lederhalfter und einer Leine, die es auf der Erde hinter sich herzog. An seinen Wirbeln und Beinen sah man Einschusslöcher und Wunden, unterhalb des Schaftes die Spur von geronnenem Blut. Man sah, dass es früher ein prächtiges Tier gewesen war, sich jetzt aber nur durch seine missliche Lage auszeichnete. Als Vater zu ihm sprach, blieb es stehen. Es bewegte den Kopf, als würde es ihm auf diese Weise winken, es wieherte und schien tatsächlich meinen Vater zu grüßen, der daraufhin einen Schritt auf das Pferd zu machte. Er konnte schon seit frühester Kindheit gut mit Pferden umgehen, im Alter von zehn Jahren war er bereits ein geübter Reiter. Er streichelte seinen Rücken und liebkoste seine Mähne; das Pferd war friedlich und gutmütig. Ein feuchtes Rinnsal floss aus seinen Augen und lockte die Fliegen an, die es ununterbrochen mit kräftigen Kopfbewegungen abzuschütteln versuchte. Vater säuberte mit seinen Fingern die Augen des Pferdes und wurde dabei ergeben vom Tier betrachtet. So hatten sich ihre Wege gekreuzt, es war eine Begegnung, die Spuren hinterließ. Das Tier war friedlicher und zutraulicher, als es irgendein menschliches Wesen in diesen Zeiten hätte sein können, denn vor einem Menschen hätte mein Vater vielleicht flüchten müssen. Vater wandte sich an das Tier wie an einen Freund, ja er sprach sogar mit ihm, sagte ihm, wie sehr es ihn schmerze, dass es in diese kümmerliche Lage geraten sei.
    »Ich bin auch nicht besser dran als du, mein Guter«, sagte er. Er bückte sich nach der Leine auf der Erde, fasste das Tier am Zügel und ging mit ihm zusammen die Straße entlang. Jetzt wollte er keine Abkürzungen mehr nehmen, und es dauerte dann auch eine Weile, bis er nach Hause kam. Die erste Dunkelheit hatte sich längst hinabgesenkt.
    Hunderte von Malen habe ich diese Pferdegeschichte gehört, ich weiß nicht, ob ich sie wortgetreu wiedergegeben oder ob ich etwas vergessen habe, im Gedächtnis sind mir noch viele andere Einzelheiten geblieben, weil Vater immer voller Aufregung über diese Begegnung sprach, ich denke, dass er deshalb auch jedes Mal beim Erzählen etwas Neues hinzufügte. Aber in jeder seiner Versionen standen im Mittelpunkt zwei verlorene und einsame Wesen, die einander geholfen haben. Vater konnte sich mit Hilfe des Tieres von seiner Beklommenheit lösen, die er bei

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