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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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wenn er etwas tat, konnte man daran ohnehin nichts aussetzen. Mein Vater war stolz auf seinen viele Jahre jüngeren Bruder, er sorgte dafür, dass er in das Höhere Gymnasium von Trebinje kam. Nach dem ersten Halbjahr wurde dem Jungen das Buch Germinal von Emile Zola für seine ausgezeichneten Leistungen und vorbildhaftes Benehmen als Geschenk überreicht. Als sein Vormund kam mein Vater voller Stolz zum ersten Schulfest.
    Als dann das darauffolgende Halbjahr vorbei war, lehnte es Anđelko für alle völlig überraschend ab, weiter zur Schule zu gehen. Er zog sich in sein Haus in L. zurück, das sich gleich neben dem Haus seiner Mutter befand. Sie war eine ungebildete Frau und nun glücklich darüber, dass ihr Sohn zurückgekommen war, sie kochte für ihn, kümmerte sich um alles, und wegen der Schule stellte sie ihm keine einzige Frage, kommentierte das Ganze nur einmal, als sie sagte, dass jeder Mensch seinem eigenen Stern folgen müsse. Als mein Vater nach Hause kam, wollte er Anđelko dazu überreden, wieder aufs Gymnasium zu gehen, aber er wollte auch wissen, warum er nicht mehr zur Schule ging; Anđelko hatte jedoch keine Lust zu reden, er spielte die ganze Zeit über nur Karten, mischte sie virtuos in seinen Händen, teilte sie sich selbst aus, sammelte sie wieder ein und warf sie in neuer Ordnung wieder auf den Tisch.
    »Wir hatten alle sehr große Hoffnungen in dich gesetzt«, sagte mein Vater, »wir haben alles dafür getan, dass du erfolgreich bist. Ist das etwa der Dank dafür?«.
    »Ich will gar nicht erfolgreich sein«, sagte Anđelko und wollte wissen, was sein Bruder von ihm erwartete. »Willst du etwa einen Schuldner aus mir machen? Damit ich dir mein Leben lang dankbar sein muss?«
    »Und was hast du jetzt vor? Wie soll es jetzt weitergehen?«
    »Nur keine Sorge, ich werde dir schon nicht zur Last fallen. Ich kann mein Haus verkaufen, ich spiele sehr gut Poker, ein guter Dieb bin ich auch. Ich kann ja Kirchen plündern. Irgendetwas wird mir schon noch einfallen. Du bist nicht verpflichtet, dich um mich zu kümmern«, sagte Anđelko, stand auf, sammelte seine Spielkarten auf, brach das Gespräch mit seinem Bruder jäh ab, verließ das Haus und machte sich auf den Weg zu einer Quelle und einem wild wachsenden Birnbaum. In den Sommermonaten, während der Ferien, las er dort Bücher und hatte ein Versteck, in das er seine aktuelle Lektüre legte, ein grünes Blatt diente ihm als Lesezeichen. Nun beugte er sich lange über das Wasser und blieb dort stehen, sah sich sein Gesicht in der glasklaren Oberfläche der Quelle an. Später, als die Stadtbücherei in ein neues Gebäude umzog, fand man in vielen Büchern ein getrocknetes Blatt, jeder wusste, wer es hineingelegt hatte.
    Der Leiter des Gymnasiums kam zu ihm, auch der Lehrer wurde vorstellig, den Anđelko eigentlich mochte, sie taten alles, um ihn wieder dazu zu überreden, in die Schule zu gehen, sie brachten sogar ein offizielles Schreiben mit, ein Förderer aus Trebinje wollte sich um seine Ausbildung kümmern, bis er ein Universitätsstudium abgeschlossen hätte, aber weder schafften sie es, ihn zu überreden, noch gelang es ihnen, etwas von ihm über den Grund seines Fernbleibens von der Schule zu erfahren. Der Schulleiter glaubte, irgendeine wahnsinnige Verliebtheit sei der Grund dafür, weil er es schon oft erlebt hatte, dass die jungen Leute in eine Art Adoleszenz-Depression fielen. Damit versuchte er jetzt auch, Anđelkos Fernbleiben, seine Flucht vom Gymnasium zu erklären. Anđelko war jedoch mit keinerlei psychologischen Klischees zu greifen, seine übergroße Ernsthaftigkeit, so hatte es der Leiter abschließend im Schulbuch festgehalten, deutete darauf hin, dass dieser Junge einfach viel zu früh erwachsen geworden war.
    »Ich kann nichts mehr lernen, die Schule empfinde ich als Last, das ist alles, was ich jetzt dazu sagen kann«, sagte Anđelko.
    Die vielen Versuche, ihn zur Einsicht zu bewegen, waren also völlig sinnlos, nur der Sportlehrer legte sich noch ins Zeug und versuchte seinen Musterschüler wenigstens dazu anzuhalten, seine Übungen nicht aus den Augen zu verlieren, denn er war sich sicher, dass Anđelko nicht einmal die Hälfte seines Potenzials freigesetzt hatte, und der menschliche Körper, sagte er, entfalte sich recht besehen bis zum Ende des Lebens, wer sich aber nicht um seinen Körper kümmere, stimme freiwillig der Erosion seiner eigenen Seele zu.
    Anđelko pflichtete seinem Lehrer bei, den er als seinen

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