Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
mathematisch präzises und noch viel größeres Zerwürfnis folgte, wie das eine Mal, als er vor Zorn nach einer Axt griff und eine junge Linde fällte, die vor unserem Haus in L. wuchs. Seine konfusen Gefühle versuchte mein Vater mit Alkohol zu besänftigen, selten schlug er meine Mutter, denn sie zahlte es ihm mit gleicher Münze heim, was etwas vollkommen Neues und durchweg Revolutionäres in unserem Patriarchat war.
»Nichts tut so weh wie ihre Ohrfeigen«, vertraute sich mir mein Vater einmal an und verbot mir, irgendjemandem zu erzählen, dass er von seiner Frau geohrfeigt worden war. Aber ich war stolz auf meine Mutter, ich bewunderte sie sehr dafür.
Merkwürdigerweise nahm seine Eifersucht mit der Zeit überhaupt nicht ab, zwar war sie nicht mehr so stark wie früher, seine berühmten Tobsuchtsanfälle kamen nicht mehr so oft vor und die lautstarken Streitereien waren nicht mehr so häufig, aber es blieb noch genug Zerstörerisches in ihm übrig. Zusätzlich waren beide dickköpfig und verweigerten einander über lange Zeiträume das Gespräch. Einmal stellten sie einen Rekord von sechs Monaten auf, in denen wortlos umeinander herumgeschlichen wurde, sogar dann, wenn Gäste im Haus waren und wenn sie Karten mit Freunden spielten oder gemeinsam verreisten. Als ich einmal meinem Vater sagte, man würde ihnen den Altersunterschied nicht mehr ansehen, weil sie sich unnötig aneinander zerrieben hätten, sagte er ruhig und nachdenklich: »Wir würden uns auch als Gleichaltrige so verhalten haben, da ist einfach etwas in uns, besser gesagt in mir, etwas, das ich nicht bändigen kann, ich bin schon als Unglücklicher zur Welt gekommen, ich habe Angst vor der Stärke der Frauen.«
17
Die Erinnerung an meinen Onkel Anđelko wirft die Frage nach seinem heutigen Wohnort auf, aber den kenne ich nicht, ich habe keine Ahnung, wo er lebt und ob er überhaupt noch lebt. Genauso wenig weiß ich, wen ich nach ihm fragen und wen ich darum bitten könnte, dass er mich im Todesfalle benachrichtigt, denn auch ich habe keinerlei Verbindung mehr zu meiner Familie. Und wenn ich dieses Buch fertiggeschrieben habe, werde ich versuchen, meinen Stammbaum in mir zu kappen, bis dahin muss ich aber noch in seinen Ästen herumklettern, muss an ihnen rütteln, solange dieses Abenteuer währt. Ein paar faule Früchte werden schon noch auf die Erde fallen.
Anđelko war von kleinem Wuchs, aber er war sportlich, sein Körper war schön und harmonisch gebaut. Sehr früh hatte er schon einen erwachsenen muskulösen Körper, und bereits in seinem fünfzehnten Lebensjahr war er ein sehr guter Turner, nahezu ein Meister auf Barren und Reck. Zu Schulzeiten gewann er zwei Pokale in einem Wettbewerb, der für die Schüler der damaligen Banovina von Zetska ausgeschrieben wurde. Er war rothaarig, aber im Sommer veränderte sich seine Haarfarbe, je wärmer es wurde, desto schneller wurde es strohblond. Vorher aber sah sein Haar aus wie eine Fackel im Sturm; und bereits im Herbst nahm das Blonde wieder ab und wurde allmählich wieder dunkler, und in den ersten kalten Tagen war es dann wieder ganz und gar rot. Und ab diesem Moment schien es auf eine merkwürdige Art selbstständig zu werden, sodass die Mädchen zu einer passenden Metapher griffen und ihm den Namen »Wogende Blume« gaben. Er hatte blaue Augen, ein feines Gesicht, einen vollkommenen Körper, er glich niemandem aus unserer Verwandtschaft väterlicherseits, nur seine Mutter betonte mehrmals in einem ihn verteidigenden Ton, dass Anđelko ihrem früh verstorbenen Bruder ähnlich sah, der auch rothaarig war und viele Sommersprossen auf dem ganzen Körper hatte. Er war bekannt als der »Russe«, so nannte man ihn, weil alles Russische als Synonym für die Farbe rot benutzt wurde. Er starb mit zwölf, niemand wusste, woran eigentlich. Eines Tages hatte man ihn tot im »Klosterinternat zur Barmherzigkeit Gottes« vorgefunden, er lag splitternackt in seinem Bett, das regte die Fantasie der Leute nachhaltig an und führte zu vielerlei Gerede.
Anđelko war ein vorbildlicher Schüler, einer der besten seiner Schule, und zwar in allen Fächern. In einigen war er sogar der beste, er hatte eine schöne Handschrift, seine Hausaufgaben und seine literarischen Aufsätze waren sprachgewandt, ohne unnötige Zierden, denn nicht ein Wort darin war zu viel. Genauso war er auch im Leben, er war in allem beneidenswert präzise und dabei immer charismatisch, sehr selten widersetzte sich ihm jemand, denn
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