Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Sport-Mentor respektierte, schließlich war es ihm gelungen, mit seiner Hilfe seinen Körper in Form zu bringen. Er hatte ihn achtsam und maßvoll trainiert, und es war etwas ganz anderes dabei herausgekommen als das, was die meisten seiner Altersgenossen aus der Provinz aus ihren Körpern machten. In diesen Zeiten waren Muskeln in Mode, die Stadt war für die meisten jungen Männer etwas Geheimnisvolles und verleitete sie dazu, sich als flanierende Muskelprotze am Strand von Dubrovnik zu produzieren.
Im Jahrbuch des Gymnasiums sind die Notizen des damaligen Schulleiters aus dem Jahr 1939 veröffentlicht worden. Es sind ein paar lesenswerte Eintragungen darunter, die ich einsehen durfte und die mir gezeigt haben, wie kostbar es sein kann, wenn man bei einer Betrachtung auf unterschiedliche Quellen und damit auf andere Perspektiven zurückgreifen kann. Manchmal ist gerade das, was uns als das Nebensächliche erscheint, von großem Wert. Ich fand auf diese Weise zum Beispiel heraus, dass der Schulleiter auch ein Professor für Psychologie war, der hin und wieder den Polizei-Inspekteuren zur Verfügung stand und ihnen über das psychologische Profil junger Kommunisten Auskunft gab. Mein Onkel war eine Art Demonstrationsbeispiel für ihn, auf das er immer wieder gerne zurückgriff. Ich muss dazu sagen, dass er ihm sehr gewogen war. Seine Auskünfte erwiesen sich als maßgebend für das, was später als Anđelkos Mythos überlebt hat, und es spielte keine Rolle mehr, dass er von heute auf morgen das Gymnasium abgebrochen hatte und danach in bedenkliche Gesellschaft geraten war.
Sehr häufig ziehe ich beim Schreiben meine eigenen Notizen heran, schaue in alten Heften nach, lese in ihnen. Eine Menge davon fällt naturgemäß immer weg oder ist gar nicht verwendbar, aber alles, was ich in den Papierkorb werfe, sehe ich mir dennoch genau an, bevor ich mich vollends davon verabschiede. Der Sinn dabei ist nicht die übermäßige Rettung meiner alten Kritzeleien, vielmehr helfen sie mir immer, das Geschriebene gewissenhaft zu überprüfen, um zu sehen, ob ich genau genug arbeite. Immer wieder ist es mir auf diese Weise gelungen, auf ein entscheidendes Datum, auf ein einzelnes Wort zu stoßen, das mir geholfen hat, etwas Neues zu begreifen, weil ich schreibend immer in einen Dialog mit der Sprache selbst trete und letzten Endes, ob ich das will oder nicht, auch immer etwas über das Schreiben selbst sage. Deshalb meide ich ganz bewusst nicht das Theoretische, die Betrachtung des Schreibens verlockt mich im gleichen Maße wie das Erzählen selbst. Ich kenne Schriftsteller, die sagen, dass das Fortgeworfene grundsätzlich immer besser ist, viel besser, als das von ihnen Veröffentlichte. Aber das ist nicht richtig, es handelt sich hierbei um den klassischen Selbstbetrug von Schwindlern, die sich auf diese Weise zum Eigenlob verleiten lassen. Viel mehr als das interessiert mich jedoch die Frage, ob wir nicht auch als Schreibende gezwungen werden, die Träume unserer Vorfahren und jener Menschen, die uns nah sind, zu träumen. Träume ich beispielsweise den gleichen Traum, den auch schon mein Vater geträumt hat? In den Notizen des Schulleiters bin ich auf die Beschreibung eines Traumes gestoßen, den ihm allem Anschein nach mein Onkel Anđelko anvertraut hat – und genau diesen Traum habe ich schon viele Male selbst geträumt, lange noch bevor ich wusste, dass es der Traum meines Onkels war. Er träumte regelmäßig davon, dass das Schulgebäude über ihm zusammenbrach, der ganze Schutt ihn unter sich begrub, er aber keuchend und unter Schmerzen versuchte, sich noch lebend, aber mit einem Mund voller Staub zu retten. Unter dem Eindruck dieses Traumes stehend, zwang er sich jeden Morgen, zur Schule zu gehen. Mit diesen Bildern im Kopf betrat er täglich sein Klassenzimmer, setzte sich hin und wartete darauf, dass das Gebäude wie im Traum zusammenbrach. Mit der Zeit hatte er sich so sehr an diesen Gedanken gewöhnt, dass er schon bald jene kleine Naht aus den Augen verlor, die Traum und Wirklichkeit so sorgsam voneinander trennt. In den Augen seiner Lehrer war er nur ein Schüler, der seltsam unbeteiligt in die Luft starrte, und sie hatten es sich angewöhnt, ihn mehr und mehr zurechtzuweisen. »Sei kein Kalb«, sagten sie, »nur Kälber starren ins Nichts.« Vielleicht war es wirklich dieser Traum, der ihn zur Flucht zwang und aus der Schule wegtrieb, weswegen es auch keine Rolle spielte, dass er eigentlich sehr gute Noten
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