Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
hatte.
In meiner Kindheit wusste ich nicht sehr viel über meinen Onkel, bei uns zu Hause sprach man kaum über ihn, mein Vater erwähnte ihn nur ungern. Die Rolle des Erinnernden scheint mir vorbehalten zu sein, denn nun bin ich es, der unsere alten Familienquittungen zusammenrechnen muss, und während ich das tue, bemerke ich, wie ähnlich ich diesem Onkel bin. Unsere Verwandtschaft erscheint mir sogar überprüfbar, obwohl ich an die Macht der Gene gar nicht glauben will. Denn der Gedanke, durch Ähnlichkeiten mit meinen Eltern verbunden zu sein, ist nicht gerade verlockend für mich, innerlich bäumt sich auch alles in mir dagegen auf. Ein Dichter hat diesen Zustand einmal in einem Vers sehr gut zum Ausdruck gebracht: Ich bin vor ihnen geboren / selbst habe ich mich / lange vor ihnen / zur Welt gebracht. Nun träumte aber auch ich diesen Traum, erlebte Nacht für Nacht, wie die Wände des Gymnasiums mich unter sich begruben, wechselte deshalb ständig die Schulen, und an der Universität schaffte ich es nicht mehr als ein Jahr zu bleiben. Auch ich hatte sehr früh damit begonnen, Sport zu machen, ich war sehr gut auf dem Barren, noch heute bin ich ganz gut in Form. Mein Onkel wurde nach dem Schulabbruch Mitglied im Segelverein und im Club der Fallschirmspringer. Er sprang ganze zweiundsiebzig Mal aus einem Zweiflügler heraus. Beim Kartenspiel erwies es sich, dass er eine Begabung zum Betrüger hatte, und Diebstähle beging er aus reinem Vergnügen, wobei er es vor allem auf Gotteshäuser abgesehen hatte. Sein Spezialgebiet wurden Plünderungen von Klöstern und Kirchen. Auch ich war ein begeisterter Fallschirmspringer, bis ich einen Unfall hatte. Ich war Hütchenspieler und zockte auf der Straße. Außerdem konnte ich mit den Karten umgehen wie ein Zauberer. All das tat und erlebte ich, ohne im Geringsten um das Schicksal meines Onkels zu wissen. Er interessierte mich überhaupt nicht, aber meine Zockerzeit hatte genau in jener Periode ihre Hochsaison, als ich nichts mit meinen Wurzeln zu tun haben wollte und mich am liebsten von meiner ganzen Verwandtschaft losgesagt hätte.
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Wenn zu Hause doch einmal die Rede auf meinen Onkel kam, wurde er von allen einfach nur der Teufel genannt, weil man sagte, er sei schlicht teuflisch intelligent gewesen. Man konnte ihn nicht täuschen oder ihm etwas unterschieben, jede unterschwellige Andeutung verstand er intuitiv, beantwortete sie schnell, manchmal auch mit Fäusten. Sobald er mit jemandem ins Gespräch gekommen war, machte er ihn sofort nach und imitierte wie ein Schauspieler die Art, in der sein Gegenüber sprach, was dazu führte, dass die meisten dachten, er mache sich lustig über sie. Wenn einer stotterte, fing auch er an zu stottern, was mehr als nur eine Unhöflichkeit war. Die meisten fanden das gemein und unmenschlich, was er machte. Wenn einer hinkte, begann er plötzlich auch zu hinken, darin lag tatsächlich etwas Komisches; aber es liegt auch in der Natur der Sache, dass ein Hinkender selbst darüber überhaupt nicht lachen konnte. Nachdem Anđelko ein paar kleine Diebstähle angelastet wurden, steckte mein Vater ihn in eine Besserungsanstalt. Das hatte auch etwas mit Rache an seinem jüngeren Bruder zu tun, der nicht auf ihn gehört und sich eigensinnig über seine Bitten hinweggesetzt hatte. Die begangenen Diebstähle waren nicht wirklich bösartig, Anđelko selbst hatte in der Regel auch nichts vom Gestohlenen, aber er verfolgte eine Art Strategie, er wollte die wohlhabenden Familien erschüttern und aufzeigen, wie sie zu ihrem Vermögen gekommen waren, und seiner Meinung nach war das auf dem Rücken der Arbeiter geschehen. Er war sich darin sicher, dass das, was man durch Diebstahl erringt, einem durch Diebstahl genommen wird. Das war schon alles, eine andere Botschaft hatte er gar nicht.
Nach einem Monat haute Anđelko aus der Besserungsanstalt ab. Er nahm seinen Freund und Beschützer Viktor Bloudek mit, der im gleichen Alter wie er war. Es war der Sohn des Schusters Karl Bloudek. Sie wurden unzertrennliche Freunde, waren einander treu ergeben, segelten zusammen und waren Mitglied im Fallschirm-Club »Unsere Flügel«. Beide waren hervorragende Turner, die gemeinsam eine neue Besonnenheit an den Tag legten. Gemeinsam entschieden sie, das Schusterhandwerk zu erlernen. Karl nahm alsbald die beiden unter seine Fittiche. Sie begnügten sich aber nicht nur damit, Reparaturarbeiten zu machen, sie spezialisierten sich sogar darauf, solide
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