Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Menschenknäuel, viele grüßten einander im Vorübergehen. Aber auch der eine oder andere nervöse, ruppige junge Mann war unter den Besuchern und hatte bereits einen über den Durst getrunken. Meistens kamen diese Burschen aus montenegrinischen Gegenden und sorgten dafür, dass es Prügeleien gab und die Leute mitten in ihrer Ausgelassenheit Angst bekamen. Die Ordnungskräfte hatten auf den Jahrmärkten immer sehr viel zu tun, aber auch sie ließen sich auf Begegnungen ein und von der guten Stimmung davontragen, sodass sie dabei ihre Pflichten vergaßen und auf manches Brenzlige viel zu spät reagierten. Wer würde sich auch nicht bei einem mächtigen Stier etwas länger aufhalten, der die angeblich längsten Hörner der Welt hatte, die aus einem riesigen Kopf herauswuchsen? Beeindrucken konnte natürlich auch ein Leithammel, der nicht mehr und nicht weniger als vier Augen vorzuweisen hatte. Es gab aber auch noch andere Attraktionen, Frauen etwa, die barfuß auf einem hauchdünnen Seil balancierten, das über den Köpfen der Menschen gespannt war. Es gab auch die sogenannten lustigen Spiegel, die die Eigenschaft hatten, menschliche Gesichter in Karikaturen zu verwandeln. Auch halsbrecherische Aktionen mit Motorrädern waren zu sehen, die auf der sogenannten »Todeswand« fuhren, Bocchia-Besessene, Steinewerfer, unzählige andere Spiele, Leute, die einem das Geld aus der Tasche zogen und dabei ihre Gesangskunst zum Besten gaben.
Es lohnte sich, all das zu sehen, denn nur einmal im Jahr kam der Rummel nach L. Alle wollten so viele Eindrücke wie möglich sammeln. Dann sprach man das ganze darauffolgende Jahr von nichts anderem als von Mariä Geburt, was so lange ging, bis wieder der nächste Jahrmarkt alle Menschen dieser Gegend zusammenbrachte. Auf einem dieser Jahrmärkte wurde mein Onkel Anđelko verhaftet. Er war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt. Sie sperrten ihn ein, weil er vor der Kirche einen Kolo initiierte, mit anderen im Kreis tanzte und lauthals singend skandierte: Nieder mit der Kirche und den Altären, nieder mit den Popen und den Milizionären.
In einem Zelt konnte man für wenig Geld ein – so hieß es – nie gesehenes Wunder bestaunen, weshalb sich eine Menge fröhlicher junger Männer davor versammelt hatte. Beharrlich warteten sie darauf, an die Reihe zu kommen und die »größten Titten der Welt« zu sehen. Das also war das angekündigte Wunder. Während sie warteten, waren alle putzmunter, und nach dem Besuch im Zelt verwandelte sich ihre Munterkeit in Übermut. Jeder von ihnen fing an, die Brüste mit den üppigsten Vergleichen zu beschreiben. Ein respektvolles Staunen schwang in ihren Erzählungen mit, und ein Gendarm ließ sich dazu hinreißen, die Brüste mit einem Dudelsack zu vergleichen, während andere ihn in der Beschreibung der Brustgröße zu übertrumpfen suchten und sagten, ein Dudelsack sei ja viel zu klein für das, was sie gesehen hätten. Auch mein Vater hatte sich eine Eintrittskarte für 3 Groschen gekauft, und als er dieses Wunder von Busen sah, bezahlte er noch einmal genauso viel, um es berühren zu dürfen. Als er aus dem Zelt herauskam, fiel sein Blick auf ein Grüppchen junger Frauen aus L., es waren gut gelaunte Mädchen vom Land, unter ihnen jenes aufmüpfige Ding, das in seinem Gemischtwarenladen immer barsch mit ihm umsprang. Seine zukünftige Ehefrau – meine Mutter. Er wollte sich vor ihr verstecken, denn er schämte sich, dass er gerade aus dem Zelt kam, aber es war zu spät, sie hatte ihn schon gesehen, deshalb trat er auf sie zu, nahm ihre Hand, führte sie von ihren Freundinnen weg und brachte sie in einen Kramladen, eine Holzhütte, in der eine improvisierte Goldschmiedewerkstatt untergebracht war. »Gebt mir die teuersten goldenen Hochzeitsringe, die ihr da habt«, sagte er.
Fröhlich nahm die junge Frau den Heiratsantrag an, verließ glücklich die Bretterbude und zeigte stolz erhobenen Kopfes ihren Freundinnen den goldenen Verlobungsring. »Ich bin verlobt und ich werde heiraten.« Das machte natürlich Eindruck bei den jungen Frauen. Sie wussten, wie streng ihr Vater war und wie sehr er ausgerechnet diesen Mann verabscheute, aber sie kannten auch meine Mutter, wussten, dass sie eigensinnig war und dass sie von nichts abrückte, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Ihr Vater wiederum konnte ihr nichts abschlagen, sie war sein auserkorener Liebling. Aber wann immer später die Rede auf diese Angelegenheit kam, ob man darüber wohlwollend
Weitere Kostenlose Bücher