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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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handgemachte Schuhe anzubieten. Sie orientierten sich dabei an italienischer Mode und beschafften sich dafür die nötigen neuen Muster.
    Die Bloudek-Schusterei gab es schon seit über fünfzig Jahren. Eröffnet hatte sie Vaclav Bloudek in einer Straße, die auf der einen Seite von einer Reihe Platanen und auf der anderen von Kastanien gesäumt war. Die Bäume stammten noch vom Beginn der Österreich-Ungarischen Monarchie. Die Straße war einst als Teil eines Marktplatzes geplant worden, weshalb die österreichischen Ingenieure gleich zur Stelle gewesen waren und Kastanienbäume gepflanzt hatten. Damals glaubte man noch, dass sie Fliegen abhalten, wegen der Hygiene waren sie für alle wichtig.
    Als der Tscheche Vaclav Bloudek im Jahre 1891 nach Trebinje kam, ließ er schon nach einer Stunde Aufenthalt verlautbaren, dies sei die Stadt seiner Träume, und verbreitete daraufhin die Nachricht, es handle sich nun um seine Geburtsstadt. Der Mann wusste natürlich genau, dass er in Prag zur Welt gekommen war. Seine Lebensphilosophie aber besagte, dass ein Mensch notwendigerweise mehrmals zur Welt kommt und dass er bei jeder Veränderung in seinem Leben automatisch neu geboren wird. Im gleichen Jahr heiratete Bloudek eine reife junge Frau, eine Katholikin, aus der Handwerkerfamilie Meštrović. Es handelte sich dabei um eine hochangesehene alte herzegowinische Familie, deren Wurzeln wiederum bis Tschechien reichten. Sie gilt heute als Erneuerin des Schustergewerbes, hat auch die anderen Handwerkskünste, zum Beispiel die Goldschmiedekunst von Grund auf verändert. Die Damenlederhandtaschen der Meštrovićs haben große Berühmtheit erlangt, man hat sie sogar mit vielen Preisen ausgezeichnet.
    Anđelko fand in seiner neuen Familie eine Zuflucht, und dass er in der Schusterei Romane zu lesen anfing, das war Viktors Vater Karl zu verdanken. Seine Söhne lasen ihm immer aus Büchern vor, denn den letzten Rest seines Sehvermögens wollte er sich für die Ausübung seines Handwerks aufbewahren, schließlich war er der Ernährer der ganzen Familie. Zwei seiner Söhne waren als Saisonarbeiter nach Slawonien gegangen, hatten dort geheiratet und waren im Norden geblieben, sie sind jetzt also das, was die Leute »Slawonier mit herzegowinischen Wurzeln« nennen. Sein dritter Sohn Viktor verkraftete den Tod der Mutter schlecht und geriet auf Abwege. Dann kam er wie Anđelko in die Besserungsanstalt. Erst als er von dort abgehauen war, fand er zu seinem Vater zurück. Mit seinem besten Freund fing er wieder an Romane zu lesen, zuerst um seinen Vater zu erfreuen, der ein leidenschaftlicher Literaturliebhaber war, aber bald schon verfielen die beiden Freunde selbst dieser Leidenschaft. Sie lasen alles, was ihnen in die Hände kam. In der Chronik der Stadtbücherei sind Fotos von ihnen veröffentlicht, die mit dem Vermerk versehen sind, dass die beiden den Rekord im Bücherausleihen gebrochen haben.
    Gemeinsam gingen sie auch zur Prüfung vor die Kommission der Handelskammer von Banovina. Man berief sie getrennt von den anderen Schülern dorthin, denn sie waren zuvor sehr unregelmäßig zum Unterricht erschienen. Vor der letzten Meisterprüfung mussten sie in allen Fächern geprüft werden, beispielsweise in Wirtschaftslehre, was ihnen ganz und gar gelang, und der praktische Teil, in dem die Herstellung von Schuhwerk behandelt wurde, musste im großen Klassenzimmer der Industrieschule absolviert werden, in dem alle Utensilien und Werkzeug bereits auf sie warteten. Diese Prüfung wurde zu einem öffentlichen Ereignis, das nicht nur die Verwandten der Schüler anlockte, sondern auch viele andere Menschen und Persönlichkeiten der Stadt, denn so etwas war damals ungewöhnlich, praktisch nie vorgekommen. Die beiden jungen Männer gaben ihr Bestes, und als die Prüfungsabnahme begann, wurde es im Klassenzimmer still wie in einem Theater. Sie absolvierten die Prüfung auf eine Art, als seien sie Darsteller in einem gesellschaftlich relevanten Stück, direkt vor den Augen eines ausgewählten Publikums. Es waren auch Polizisten und Priester darunter, aber natürlich auch ganz normale Leute aus ihrem Sport-Club. Niemand wusste, warum das Ganze ein solches Ereignis wurde, auch die beiden jungen Männer, die an diesem Tag Meister geworden waren, waren darüber verwundert. Hätte eine Theatergruppe in ihrer Stadt gastiert, wären nicht so viele Leute gekommen, selbst auf dem Flur drängelten sie sich aneinander. Es waren auch viele hübsche junge Frauen

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