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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Bett schlafen ließ, hätten mich die Geschichten meiner Urgroßmutter regelrecht umgebracht. Obwohl ich mich von meinem Großvater beschützt und in seiner Nähe immer geerdet fühlte, hatten die Geschichten meiner Ugroßmutter stets zur Folge, dass ich mich über alle Maßen fürchtete, weil sich ihre Erzählungen wie Blei in meiner Psyche einnisteten. Da war zuerst die Angst vor der Dunkelheit, vor schmutzigem und stehendem Wasser, dann vor kleinen Seen und Flüssen, vor Wäldern, Waldbächen, Berg- und Erdhöhlen – alles Orte, an die sie ihre Feen und Elfen verlegte, die ihrer Überzeugung nach dort genauso wie Hexen, Teufel und Ungeheuer oder neunköpfige Drachen wohnten. Petruša erzählte mir davon mit einer kaum hörbaren Stimme, nahezu flüsternd, aber sie sprach erschütternd sicher, als hätte sie all diese gespensterhaften Ereignisse gerade aus ihrer eigenen Erlebniswelt, aus ihren ganz persönlichen Erinnerungen herausgeholt. Bevor sie eine Geschichte erzählte, aß sie ein Löffelchen Honig, und wenn sie dann zu Ende erzählt hatte, trank sie ein Gläschen Schnaps hinterher, um sich wieder zu beruhigen. Sie benannte auch die Zeit, in der ihre Geschichten spielten, es sei, sagte sie, »die alte Zeit, in der Epidaurus zugrunde ging«. Das hörte sich so schrecklich an, dass ich sofort Gänsehaut bekam, und wenn Geschichten an die Reihe kamen, die von bösen Feen handelten, die sich offenbar auf den Diebstahl von Kindern spezialisiert hatten, um sie dann zu erziehen und schreckliche und schändliche Menschen oder gar Dämonen aus ihnen zu machen, war ich schon so am Ende, dass ich kaum mehr Luft bekam. Einmal geschah es, dass mich meine andere Großmutter, Vaters Mutter Vukava, verfluchte, weil ich sie eine Hexe genannt und wegen der Warze auf ihrer Nase verspottet hatte. »Die schwarzen Feen sollen sich in dir festkrallen, bei Gott, wenn sie dich nur endlich holen und zu den roten Blumenbeeten bringen würden!«, sagte sie. Das war für mich nach all den Geschichten, die mir meine Urgroßmutter erzählt hatte, der schrecklichste Satz, den sie mir je hätte sagen können, und er erschütterte mich so sehr, dass ich automatisch nach einem Topf griff, der auf dem Herd stand und in dem gerade Milch kochte, und ihn ihr einfach über die Hände goss. Noch lange Zeit danach musste sie sich um ihre Brandwunden kümmern, ich sah sie unzählige Male Verbände und Pflaster wechseln.
    Meine Urgroßmutter Petruša hat zwei Töchter und vier Söhne zur Welt gebracht, aber nur mein Großvater Tomo ist bei ihr in L. geblieben. Zwei ihrer Söhne zogen in große Städte, der jüngste von ihnen aber blieb, denn er liebte das Familienanwesen sehr und hing auch an seinen Großeltern mütterlicherseits, bei denen er den größten Teil seiner Kindheit verbrachte. Als er volljährig war, nahm er den Namen Radonjić an, den Mädchennamen seiner Mutter. Er blieb zunächst in Konvala und ging dann in Dubrovnik zur Schule. Schließlich fing er an, alles zu sammeln, was mit der Folklore des Ortes zu tun hatte, auch jene »unheimlichen Geschichten«, die von mythischen Wesen handelten, hatten es ihm angetan. Seine Vorliebe galt jedoch der Glaskunst und seinen Radonjić-Vorfahren, zu denen ein gewisser Ivan und seine Söhne Luka und Vica gehörten. Nach dem Lesen der Familienurkunden und der Sichtung einer großen Menge Archivmaterials schrieb er eine kleine Familienchronik, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass sie leicht zu lesen war und an den Stellen, an denen ihm die Dokumente ausgegangen waren, durch seine Vorstellungskraft ergänzt wurde, so jedenfalls beschreibt er es selbst in seinem kleinen Vorwort.
    Das Kindheitshaus und die zahlreiche Verwandtschaft meiner Mutter habe ich immer als meine eigentlichen Wurzeln betrachtet. Von diesen unzähligen Menschen ist niemand mehr am Leben. Meine Wurzeln sind mit ihnen gestorben. Mit keinem von ihnen kann ich noch über meine Herkunft reden. Sie sind alle von mir abgefallen. Es ist, als sei ich dadurch so leicht wie eine Vogelfeder geworden. Mein Großvater liebte diese Vogelfeder-Redensart, aber ich habe sie damals nicht verstanden, begreife sie erst jetzt, so wie ich einige seiner klugen Sätze erst jetzt begreife. Einer seiner Aussprüche war mir immer besonders rätselhaft vorgekommen. »Du weißt erst dann, was richtige Einsamkeit ist«, sagte er, »wenn du unter vielen Menschen und dennoch allein bist.«
    Ich weiß nicht, ob meine Anhänglichkeit an Mutters

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