Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
an waren die Brüder getrennte Leute, es gab keine Gefühle mehr, die sie miteinander verbanden.
Mein Vater schwieg sich darüber aus, ein einziges Mal aber sprach er mit mir darüber. Die Nadel seines Bruders hatte er nicht vergessen, und nach einer Weile, als er genug Distanz zu allem gewonnen hatte, interpretierte er das Geschehen auf seine Weise. Er war überzeugt davon, dass er für die beiden Freunde etwas Gutes getan und mit seinem Verhalten Werbung für ihr Handwerk gemacht hatte, das man nur ausübte, wenn einem nichts anderes mehr übrig blieb. Mein Vater verstieg sich zu der Behauptung, damals habe die ruhmreiche Epoche des Lumpenproletariats begonnen, das Ereignis mit den beiden gut aussehenden jungen Männern sei ganz gezielt von oben gesteuert worden. Eigentlich sei es eine Lehrstunde für die Arbeit der neuen Ideologen gewesen. Wer aber hätte sich so etwas ausdenken können? Vaters Worte klangen, als glaubte er an eine ultimative Autorität, eine Art neuen Gott, der alle Fäden zog, sogar jene für die Prüfung meines Onkels, die keinerlei Bedeutung für die Menschheitsgeschichte hatte. Mein Vater konnte das Ganze nicht weiter ausführen, aber ich fühlte, was ihn belastete und worauf er abzielte. Er legte die Wirklichkeit auf seine Weise aus. Jahre sind seitdem vergangen, die Geschichte hat uns gelehrt, was alles noch geschehen kann, wir sind uns in der Zwischenzeit alle im Klaren darüber, dass weder Engel noch Menschen einfach immer nur stetig geradeaus gehen können. Traumatische Ereignisse müssen wir früher oder später als Teil unseres Lebens verbuchen, der eine oder andere schmerzhafte Sturz gehört notwendigerweise dazu. Und so hatte man auch die beiden Freunde im kollektiven Gedächtnis als Schuster aus armen Verhältnissen in Erinnerung behalten, als zwei Menschen, die sich viel zu früh mit der Ungerechtigkeit der Welt auseinandersetzen mussten. Aber viel mehr als das interessierte mich natürlich brennend die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass mein Vater in alledem auf metaphysische Erklärungen angewiesen war.
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Immer öfter blieb mein Vater fort, verschwand einfach in der Stadt, und meine Mutter übernahm die laufenden Geschäfte. Sie war fleißig, kümmerte sich genauso akribisch um alle häuslichen Belange wie um den Gemischtwarenladen. Ich half ihr dabei und trug die Waren auch mal direkt zur Bahnstation, stellte mich unmittelbar vor die einfahrenden Züge und verkaufte Obst und gesüßte Mandeln, aber auch andere Dinge trug ich dorthin, Getränke und irgendwelche kleinen Knabbereien. So verdienten wir immer noch ein bisschen Geld dazu und zählten es dann gemeinsam am Abend. Wenn wir dann genau wussten, wie viel wir untertags eingenommen hatten, legten wir ein wenig zur Seite. Mutter betonte immer, wie wichtig es war zu sparen, denn niemand konnte wissen, welche Zeiten noch auf uns zukamen. Wir träumten vom Wohlstand, aber glaubten insgeheim nur an das Allerschlimmste. Meine Mutter führte das auf das Böse zurück, sie sagte, dass wir mit dem Bösen ständig verbunden wären, weil es uns allenthalben umgab, deshalb müssten wir immer an das Böse denken, sowohl beim Einschlafen als auch beim Wachwerden. Man gewöhne sich schnell an das Schlechte, sagte sie, und wenn es nicht mehr da sei, dann fehle es einem sogar. So etwas sei alles andere als schön für die Seele, aber gerade deshalb mache es uns auf lange Sicht stark.
Jedes Mal wenn Vater zum Großeinkauf nach Dubrovnik aufbrach, beunruhigte das meine Mutter, denn sie hatte mit dunklen Vorahnungen zu kämpfen, die sie manchmal völlig unnötig überkamen. Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren, wurde regelrecht von ihnen überfallen und fing dann immer an, alle möglichen Situationen aufzuzählen, in denen Vater etwas zustoßen konnte. Sie benahm sich, als sei er ins fernste Ausland gegangen, wo er ein verlorener und unbekannten Umständen ausgelieferter Fremder war. Die Stadt zog ihn magnetisch an, er liebte sie, als sei er dort zur Welt gekommen, hielt sich gerne in ihr auf und ließ sich regelrecht von ihr verschlucken. Er kaufte immer auf Kredit ein, das Bargeld gab er unterwegs aus, noch bevor er das Lager des Großhändlers Ljubo Maras betrat. Das führte dazu, dass Herr Maras irgendwann Vaters Schulden mit einer Hypothek auf unser Haus beglich.
Meiner Mutter ist es zu verdanken, dass Dubrovnik in meiner Vorstellung zu etwas durchweg Mystischem wurde. In mir formierte sich das Bild einer sagenumwobenen
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