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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Stadt, in der alles von magischen Gesetzen bestimmt war und die deshalb meinem Vater den Verstand raubte. Wenn uns die aus Dubrovnik kommenden Waren mit dem Zug geliefert wurden, lag ihnen oft eine Nachricht bei, Vater, hieß es, werde in den nächsten Tagen nachkommen. Wir kehrten fröhlich von der Bahnstation nach Hause zurück, der beladene Wagen mit den Waren fuhr vor uns her. Vorausschauend bestach uns Vater, denn er legte immer ein kleines Geschenk dazu. Mutter bekam Seidenstrumpfhosen oder Haarnadeln aus Elfenbein. Und ich besaß schon eine ganze Kollektion von Pfeifen, die er für mich an der Küste besorgte, eine echte Hohner-Mundharmonika hatte er mir auch geschenkt.
    Ich hatte schon einige Bücher über Dubrovnik gelesen, besaß auch einen alten abgegriffenen Stadtplan, einen uralten Baedeker, aus dem ich sehr viel gelernt habe, um mich mit meiner Lehrerin unterhalten zu können. Sie hörte mir zu und staunte darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit ich von den kleinen und den großen Dubrovniker Brunnen sprach oder genaue Auskunft über die acht Frauenklöster geben konnte. Zusätzlich kannte ich auch noch eine Menge Wörter, die es nur im Dialekt von Dubrovnik gab, ich hatte sie in einem anderen Buch entdeckt und auswendig gelernt, ich weiß nicht einmal mehr, wie es hieß, aber am Ende des Buches war ein kleines Wörterbuch, das auch die Bedeutungen weniger bekannter Begriffe und Fremdwörter enthielt. Diese Wörter zählte ich aufs Geratewohl auf, von vielen war mir die Bedeutung überhaupt nicht geläufig, auch wusste ich nicht, ob ich sie richtig betonte, aber meine Altersgenossen fanden das sehr lustig, und sie forderten mich immer wieder auf, in dieser für sie fremden Sprache irgendetwas zu sagen. Manchmal machten sie sich auch über mich lustig und benutzten dafür genau jene Wörter, die ich ihnen beigebracht hatte. Meine Mutter ärgerte sich über meine Wörter-Besessenheit, sie schlug mir manchmal sogar mit der flachen Hand über den Mund, um mich endlich zum Schweigen zu bringen. Nur mein Vater liebte es, wenn ich ihn im Dubrovniker Dialekt mit dem Wort Vater ansprach. Wenn wir zusammen auf dem Markt und unter Leuten waren, verschwand Vater blitzschnell hinter einer Säule des Portikus oder versteckte sich hinter einem Baum, damit ich ihn mit diesem einen Wort rief. Manchmal sagte ich das Wort einfach so vor mich hin, die Leute lachten über uns, mein Vater aber war glücklich und umarmte mich.
    Die großen Ferien verbrachte ich bei meiner Großmutter mütterlicherseits, es waren Sommer voller Aufregung, ich war den ganzen Tag in Bewegung, immer geschah etwas Spannendes, und alles war kurzweilig, sodass ich in allen Schulferien, selbst in den Winterferien, immer versuchte, zu meiner Großmutter zu kommen. Dort war ich glücklich. Ich glaube, dass ich diese Glücksfähigkeit von meinem Großvater Tomo noch zu seinen Lebzeiten vererbt bekommen habe. Mit ihm entdeckte ich viele geheimnisvolle Dinge und lernte nahezu alles über die Vögel dieser Region. Wir schlichen uns leise an sie heran, fingen sie und studierten sie stundenlang. Aber meine schönsten Momente erlebte ich immer, wenn wir sie aus dem Vogelkäfig wieder in die Freiheit entließen. Ich weiß nicht, ob die armen Vögel oder ich in diesen Augenblicken fröhlicher waren, jedenfalls flogen sie sofort weg und verschwanden im Nichts. Bis heute erinnere ich mich an die vielen Vogelnamen, die von den einfachen Leuten in dieser fruchtbaren Gegend benutzt wurden. Großvater und ich arbeiteten auch zusammen auf den Feldern, im Namen der Nomenklatura, wir verhalfen ihr zu Wachstum und Größe, meistens aber beschrieben wir uns dabei alles, was wir gerade sahen. Mein Großvater machte Notizen, die ich mit Bewunderung las. Das waren meine ersten Erfahrungen als Leser. Wenn er mir etwas vorlas, liebte ich es, seine Stimme zu hören, seine ganz eigene Betonung, die warmen Wörter, die aus seinem Mund kamen. Aber ich liebte auch sein Aussehen, seine ganze Erscheinung und die Art, wie er lachte. Ich wollte eigentlich genauso sein wie er, so und nicht anders.
    Großvaters Mutter, meine Urgroßmutter Petruša, kam in Konvala zur Welt, auch sie war eine begnadete Erzählerin und brachte mir bei, dass es schwerer ist, jemandem zuzuhören und die Geschichten in sich aufzunehmen, als selbst Geschichten zu erzählen. Hätte ich mich nicht bei meinem Großvater und in seiner Umarmung sicher und geborgen gefühlt, der mich sogar manchmal in seinem

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