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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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gekommen, die beiden jungen Männer waren sehr begehrt. Es wurde sogar erzählt, dass ein paar Schülerinnen in Ohnmacht fielen, so erregt sollen sie von dem Anblick der beiden Kerle gewesen sein.
    Was das genau war, um was für ein Phänomen es sich eigentlich bei diesen Milchbuben handelte, kann man bis heute nicht sagen. Im Grunde waren sie einfach nur Schuster, die nicht einmal aus einer einflussreichen Familie kamen und am Rande der Armut lebten. Warum also gerade sie eine solche Aufmerksamkeit auslösten und so viele Leute magnetisch anzogen, war unerklärlich, aber der ganze Rummel glich ungefähr der Stimmung, die sich eher bei einer erfolgreich zu Ende gebrachten Dissertation einstellt. Hier aber, so formulierte es mein Vater, hatten zwei junge Männer doch lediglich das Handwerk der Hirten erlernt. Die beiden Protagonisten waren alles andere als Zauberer, sie waren ja vor nicht allzu langer Zeit aus der Besserungsanstalt abgehauen. Auf der Polizeiwache führte man sogar Akten über sie, der einzige Ruhm, den sie also wirklich zu verbuchen hatten, das war jener in der Stadtbücherei – als Leser von Romanen, die alle Rekorde gebrochen hatten. Das aber war keine wirkliche Auszeichnung, in dieser Gegend galt das Lesen eher als eine lästige Störung. Nur Verrückte lasen nach der öffentlichen Meinung Bücher. Und Leuten mit Bildung begegnet man nicht mit Respekt, sondern vielmehr mit der Überzeugung, dass sie größere Dummköpfe sind als Leute, die überhaupt keinen Schulabschluss haben.
    Als der Vorsitzende der Kommission Anđelko und Viktor zu ihrem Meistertitel gratulierte, den sie sich mit Bestnoten erarbeitet hatten, klatschten alle im Klassenraum, und als sie das Diplom ausgehändigt bekamen, rief Viktors Vater Karl alle zu einem kleinen Fest zusammen. Freudig nahmen die Leute die Einladung an, und alles strömte in das benachbarte Klassenzimmer, wo schon auf den Tischen Speisen und Getränke standen. Jeder wollte persönlich mit den frisch ernannten Meistern anstoßen, ein paar Worte mit ihnen wechseln, jeder wollte wissen, was sie nun vorhatten, was man von ihnen in Zukunft zu erwarten habe. Als seien sie Propheten! Man muss aber zugeben, dass die beiden irgendwie anziehend waren, weil sie etwas eigenartig Mysteriöses umgab. Sie strahlten jene heldische Energie aus, die sich in den Erzählungen der anderen schnell in einen Mythos verwandeln konnte. Vielleicht besaßen sie sogar übernatürliche Kräfte! So etwas mussten die Leute sich allen Ernstes gefragt haben, anders kann man diese Versammlung gar nicht erklären. Sie waren einfach von einer geheimnisvollen anziehenden Aura umgeben. Aber andererseits muss man anmerken, dass niemand ohne Schuhwerk auskommt und das Ganze aus praktischer Sicht auch ganz logisch erklärbar war. Aber damals neigte man eben dazu, den Dingen etwas Unerklärliches anzudichten.
    Mein Vater kam zum Fest seines Bruders als Einziger schon betrunken. Das nahm man ihm übel, schubste ihn hin und her, mied aber vornehmlich seine Gesellschaft, und einer der wichtigeren Referenten aus der Kommission sprach ihn direkt an und sagte, es wäre besser gewesen, er wäre gar nicht gekommen. Er habe seinem Bruder nur geschadet! Mein Vater nahm ein Glas in die Hand und ging langsamen Schrittes auf Anđelko zu, um ihm zu gratulieren. »Heute hättest du ein Student sein können«, sagte er, »aber wenn es dir lieber ist, dich mit Schuhen statt mit Federn zu beschäftigen, dann sollst du glücklich werden auf deine Art.«
    Niemand war glücklich über das, was mein Vater gesagt hatte. Warum musste er das Schusterhandwerk so geringschätzen? Dieser junge Mann war im gleichen Maße für das Handwerk wie für die Feder begabt. Alle nahmen Anđelko in Schutz und waren wütend auf meinen Vater. Vielleicht war es gerade diese Zuneigung der Leute, die Anđelko Mut einflößte und die ihn dazu brachte, seinen Bruder mit einer Schusternadel zu attackieren, er stach ihn in seinen dicken Oberschenkel. Das tat höllisch weh und blutete. Mein Vater zog demonstrativ die Hose aus, drückte mit der flachen Hand fest auf die betroffene Stelle, um das Blut aufzuhalten, aber niemand kümmerte sich um ihn oder hatte Mitleid. Im Gegenteil, ein paar Leute lachten ihn sogar aus, sie sagten, er hätte nichts anderes verdient. Als Einziger sprang Viktor ihm zur Seite, stützte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Er wird dir nie verzeihen, dass du ihn in eine Besserungsanstalt gesteckt hast.« Von diesem Zeitpunkt

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