Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
Vom Netzwerk:
Verwandtschaft etwas damit zu tun hatte, dass ich in diesem Haus geboren worden bin und nicht etwa im Haus meines Vaters. Ich wurde also im gleichen Zimmer zur Welt gebracht, in dem auch meine Mutter das Licht der Welt erblickt und in dem mein Großvater Tomo seinen ersten Lebensschrei getan hatte. Manchmal stelle ich mir vor, dass diese Tatsache noch immer meine ganze Gefühlswelt beeinflusst. Die Geburt ist ein Mysterium, vielleicht ist dort, wo einem die Nabelschnur durchtrennt wird, der Ort, an dem so etwas wie Heimat möglich ist.
    Mutters Verwandtschaft hat in L., diesem weltabgewandten kleinen Ort, an die vierzig Menschen hervorgebracht, die studiert und sich gebildet haben und die sogar in der Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Ihr Vetter, nach dem ich benannt worden bin, war schon zur Zeit meiner Geburt ein bekannter Maler und lebte in Paris. Meine Mutter hatte noch neun weitere Vettern und sieben Cousinen, einen Bruder hatte sie aber nicht, nur drei Schwestern, Pava, Ruža und Ivka, alle drei sind später kinderlos geblieben. Sie war die vierte Tochter meiner Großmutter, sie nannte sie Tuga – Trauer. Die nächste Schwangerschaft ging nicht mehr gut, meine Großmutter wurde krank, die Ärzte sagten ihr, dass eine neue Schwangerschaft lebensgefährlich für sie und für das Kind werden könnte. Zu Hause herrschte jedoch die Mentalität vor, dass die Frauen so lange gebären sollten, bis eine »männliche Stirn« zum Vorschein kam. Das war im Sinne von Urgroßmutter Petruša, die meinen Großvater immer wieder antrieb und sagte, er dürfe sich nicht seinem Schicksal fügen und müsse einfach weitermachen, immer weitermachen, bis irgendwann ein Sohn da sei. Man dürfe in dieser Sache nicht aufgeben, ganz gleichgültig, wie viel Zeit es einem abverlange. Aber dieser Eifer wurde nicht belohnt, es kam ihnen allen ihre Krankheit dazwischen.

20
     
    Jeder Mensch will wissen, unter welchen Umständen er das Licht der Welt erblickt hat. Ich selbst fragte sehr oft meine Mutter danach, und sie erzählte gerne darüber, schien aber jedes Mal etwas Neues zu erfinden. Doch niemand konnte über meine Geburt so schön erzählen, wie es meine Oma Jelica tat. Als ich geboren wurde, lebten meine Eltern schon in Trebinje, aber ich kam dennoch in L. zur Welt. Meine Großmutter hatte dafür ihre eigenen Erklärungen zur Hand. Sie unterschieden sich aber durchaus von denen meiner Mutter. Damals brachten selbst die städtischen Frauen ihre Kinder nur dann im Krankenhaus zur Welt, wenn man Komplikationen absehen konnte. Die Schwangeren versuchten sich in der Zwischenzeit so gut wie unsichtbar zu machen, und im Haus hielten sie sich bis zur Niederkunft nur in einem bestimmten Bereich auf, wie etwa in einem kleineren oder etwas abgelegenen Zimmer.
    Der Akt der Geburt selbst wurde von den Leuten als etwas Freudiges, aber immer mit Scham Verbundenes gesehen. Wenn eine Hebamme zugegen war, um der schwangeren Frau beizustehen, so war das ein großes Privileg, das sich aber nur wohlhabende Familien leisten konnten. Meine Mutter hatte großes Vertrauen in meine Großmutter Jelica, die dafür gesorgt hat, dass es eine schnelle und schmerzlose Niederkunft wurde. Großmutter hatte selbst viele Kinder zur Welt gebracht und verfügte über ein enormes Wissen. Meine Mutter wollte mich im alten Steinhäuschen zur Welt bringen; wenn man es im Winter gut heizte, wurde es mollig warm darin. Es war Dezember, ein besonders kalter Monat, wie er in dieser Gegend lange nicht mehr vorgekommen war. Mutter war es wichtig, dass ihr Vater Tomo in der Nähe war, denn dann, davon war sie überzeugt, würde alles gut gehen.
    Von ihrem Ehemann hatte sie nichts zu erwarten, er war der Meinung, dass sich um die Geburt von Kindern nur Frauen kümmern sollten. »An uns ist es, die nötigen Schüsse abzufeuern«, hatte er gesagt, »wir sind besser im Anstoßen und im Gläser-gegen-die-Wand-Werfen.«
    Meine Mutter wusste also, dass er keinen Respekt, schon gar nicht Zuneigung für eine schwangere oder gebärende Frau aufbringen konnte. Einmal mehr war sie Zeugin seiner Grobheiten geworden, als seine Schwägerin keine Milch mehr in den Brüsten hatte. Das kommentierte er mit den Worten: »Kein Wunder, sie ist trockener als die Wüste selbst.«
    Das war von besonderer Gemeinheit, denn so etwas sagte man damals sonst nur über Kühe, die keine Milch mehr gaben. Vater war von dieser kruden Machart, dabei war er eigentlich der Einzige unter den älteren Leuten, der

Weitere Kostenlose Bücher