Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
sonore Stimme vor ihm. »Ich weiß, wie es dir geht. Auch mir ist es so ergangen, vor vielen Jahren. Wir alle wissen, wie du dich fühlst, und deshalb sagen wir dir: Herzlich willkommen. Bei uns bist du gut aufgehoben. Hier beginnt ein neues Leben für dich.«
    Benjamin hob die Lider.
    Der Mann, der vor ihm auf der untersten Treppenstufe stand, war kahlköpfig und hatte große, tief in den Höhlen liegende Augen. Falten schufen komplexe Muster an Augen und Mund, und die Nase war ein wenig schief. Benjamin schätzte den Mann auf gut sechzig, vielleicht sogar siebzig. Er schien recht schlank zu sein; Hose, Hemd und Jacke hätten auch zehn oder zwanzig Kilo mehr genug Platz geboten.

    »Ich bin Hannibal«, sagte der Mann. »Und du …«
    »Er heißt Benjamin«, warf Louise ein und trat vor. »Benjamin Harthman. Und ich habe ihn gefunden.«
    Sie wirkte fast trotzig, fand Benjamin. Aber auch besorgt. Er ahnte, dass es hier eine Geschichte gab, die erst noch erzählt werden musste.
    »Ich nehme an, du möchtest die Belohnung«, sagte Hannibal nach kurzem Zögern.
    »Am besten sofort.«
    »Na schön. Katzmann, Mikado … Bitte seid so freundlich. «
    »Wir bringen sie zum Supermarkt, kein Problem.«
    Louise trat etwas näher. »Mach’s gut, Ben. Früher oder später laufen wir uns bestimmt wieder über den Weg. So groß ist die Stadt nun auch nicht.« Sie umarmte ihn kurz und flüsterte ihm dabei ins Ohr: »Denk dran: Keine zu neugierigen Fragen über Loch, Nebel und Labyrinth.«
    Er sah ihr nach, als sie mit Katzmann und Mikado fortging. Vages Bedauern regte sich in ihm; er hätte es vorgezogen, wenn sie geblieben wäre.
    Dann führte ihn Hannibal die Treppe hoch, die vielen Stimmen wurden lauter, man drückte ihm die Hand und klopfte ihm auf die Schulter, und er hörte immer wieder: »Willkommen.«
    Weiches Licht erwartete ihn in der Lobby des Hotels, goldgelb wie der Schriftzug »Gloria« und die fünf Sterne darüber. Auf dem Weg an der Rezeption vorbei sah Benjamin überall Menschen: Sie saßen an den Tischen im Aufenthaltsraum, tanzten im Ballsaal, aus dem die Musik kam, die er zuvor gehört hatte, gingen die breite Treppe zu den Zimmern
hoch oder kamen sie herab. Alle lächelten ihm zu und winkten, und für einige angenehme Sekunden fühlte sich Benjamin wie Teil einer großen Familie. Doch dann erinnerte er sich daran, dass er diese Familie gar nicht kannte – und dass sie aus irgendeinem Grund Louise verstoßen hatte.
    »Wir haben ein Zimmer für dich vorbereitet«, sagte Hannibal freundlich. »Natürlich kannst du auch etwas essen, wenn du möchtest. Und die Kleidung wechseln«, fügte er mit einem Blick auf Benjamins fleckige Sachen hinzu. »Der Supermarkt stellt uns alles zur Verfügung, wie du bald sehen wirst. Ich weiß, dass du viele Fragen hast, aber bitte erlaube uns, dir zuvor einige Fragen zu stellen.«
    Sie betraten ein Büro, in dem zwei Personen auf sie warteten: ein hagerer, ausgemergelt wirkender Mann, grau in einem grauen Anzug, mit einer Brille, deren dicke Gläser die Augen größer machte; und eine Frau, die etwas jünger war als Hannibal, aber im Gegensatz zu ihm recht mollig. Sie trug ein violettes Kostüm und auffallend rote Schuhe; offenbar mochte sie starke farbliche Kontraste. Das dichte dunkelrote Haar fiel bis knapp über die Schultern und umrahmte ein Gesicht, das so oval und fast so weiß war wie die Wolken, die Benjamin am seltsamen Himmel über der Stadt gesehen hatte. Das Lächeln darin wirkte warm und herzlich, vermittelte den Eindruck einer mütterlichen Frau, die es gut meinte. Sommersprossen zogen sich in einem rotbraunen Band von den Wangen über die Nase.
    Hannibal deutete auf den dürren, farblosen Mann. »Das ist Jonas. Er führt das Protokoll. Damit alles seine Ordnung hat.«
    Jonas nickte kurz und hielt seinen Stift bereit. Er saß in der
Ecke, an einem kleinen, pultartigen Tisch, auf dem ein großes aufgeschlagenes Buch lag.
    »Und das ist Abigale, die Mutter unserer Gemeinschaft«, sagte Hannibal. »Ich bin …«
    »Ihr Vater?« Die Worte sprangen Benjamin von den Lippen; er konnte sie nicht zurückhalten.
    Hannibal lächelte nachsichtig. »So könnte man es nennen, ja. Ich nehme an, Louise hat dir von mir erzählt.«
    »Ja.«
    Hannibal nahm an dem großen Schreibtisch aus dunklem Holz in der Mitte des Zimmers Platz. Abigale saß bereits dort, vor sich eine dampfende Tasse. Es roch nach Tee. Das Fenster hinter ihnen war geschlossen, der Vorhang zugezogen. Das Licht im

Weitere Kostenlose Bücher