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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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uns entschieden werden soll. Und wenn die Entscheidung getroffen ist, so oder so, verschwindet der Betreffende.«
    Es blitzte nicht in Hannibals Augen, und seine Stimme gewann auch nicht den hysterischen Klang eines religiösen Eiferers. Aber etwas in den Worten, ein vager Unterton, flüsterte Benjamin eine Warnung zu. Dieser Mann mochte sich ruhig und väterlich geben, doch er konnte auch hart und unerbittlich sein. Benjamin hätte gern gefragt: Was soll hier geprüft werden, wer entscheidet, und wohin verschwinden die Menschen, über die, wie auch immer, entschieden wurde? Aber er beherzigte Louises Rat und schwieg.
    »Wir sind in einer Art Limbus, Benjamin«, erklang Abigales sanfte Stimme. »Wir haben in unserem Leben nicht genug Gutes getan, um nach dem Tod ins Paradies zu kommen. Aber die Last unserer Sünden ist auch nicht so groß, dass sie uns einen Platz in der Hölle reserviert hat. Darum geht es hier: um die Entscheidung zwischen Himmel und Hölle.«
    »Du hast in deinem Leben Gutes getan, Benjamin, aber auch Böses«, betonte Hannibal, während in der Ecke Jonas’ Stift über geduldiges Papier kratzte. Für Benjamin hörte es sich seltsam laut an. »Als du gestorben bist, hielt sich beides
die Waage. Hier bietet sich dir eine große Chance. Wenn du genug Gutes tust, öffnen sich dir die Pforten des Paradieses.«
    »Wer trifft die Entscheidung?«, fragte Benjamin und erinnerte sich an die Moschee, die er im Regen gesehen hatte, und an die von Louise erwähnten Tempel. »Gott? Wo ist er?« Glaubten Hannibal und Abigale, das Monopol auf den richtigen Gott zu haben?
    »Eine Woche«, sagte Hannibal, ohne auf die Fragen einzugehen. »Wir geben dir eine Woche Zeit für deine Entscheidung. Sieh dich um. Sprich mit den anderen. Lern dein Leben nach dem Tod kennen.« Er und Abigale standen auf.
    Benjamin erhob sich ebenfalls, aber etwas langsamer und mit dem Gefühl, etwas Wichtiges übersehen oder nicht verstanden zu haben. »Und dann?«
    »Nach einer Woche musst du dich für oder gegen uns entscheiden«, sagte Hannibal, und diesmal lag so etwas wie väterliche Strenge in seiner Stimme. »Willst du Mitglied der Gemeinschaft werden oder dort draußen in der Stadt leben, im Chaos, als einer der sogenannten Unabhängigen?«
    »Ohne den Supermarkt«, fügte Abigale sanft hinzu.
    »Und noch etwas.« Hannibal kam hinter dem großen Schreibtisch hervor. »Überleg dir einen neuen Namen für deine neue Existenz. Benjamin ist tot, gestorben in der anderen Welt. Du bist in der Stadt neugeboren und brauchst einen neuen Namen.«
    Bevor Benjamin etwas erwidern konnte, heulte plötzlich eine Sirene, und jemand riss die Tür auf und rief: »Die Petrow-Expedition ist zurück!«

7
    Im Ballsaal ertönte keine Musik mehr, als Benjamin zusammen mit Hannibal, Abigale, Jonas und vielen anderen das Hotel verließ, aber aus einem der oberen Fenster, das trotz der Kühle geöffnet war, kamen traurige Geigenklänge. Er hörte sie nur wenige Sekunden lang; dann verloren sie sich wieder im anschwellenden Heulen der Sirene.
    Hinter dem Hotel erstreckte sich ein leerer Parkplatz, der Asphalt so rissig wie die Straßen in der Stadt, und jenseits davon, außerhalb des von den Lampen erhellten Bereichs, erhoben sich die Silhouetten mehrerer zwei- und dreistöckiger Gebäude. Offenbar wohnte dort niemand – die Fenster waren dunkel –, und als sie näher kamen, vermutete Benjamin, dass es sich um alte Lagerhäuser handelte. Mehrere Gestalten waren aus einem dieser Gebäude gekommen, angeführt von jemandem in nasser Kleidung, und zwei trugen eine aus Stangen und Decken improvisierte Bahre. Dutzende von Männern und Frauen umringten sie, leuchteten mit Taschenlampen in schmutzige, erschöpfte Gesichter und bestürmten die Zurückgekehrten mit Fragen.
    »Was ist mit Rinehard passiert?«
    »Wo ist Lindsay?«
    »Was habt ihr im Labyrinth gefunden?«
    »Wie weit seid ihr gekommen?«
    Nachdem Benjamin im Gedränge einige Male hin und her gestoßen worden war, hielt er sich abseits des Geschehens, beobachtete und versuchte zu verstehen. Mehrere Männer mit Taschenlampen betraten eins der dunklen Gebäude, kamen kurze Zeit später mit Hannibal wieder daraus hervor
und machten sich zusammen mit ihm daran, den Eingang zu verbarrikadieren.
    »Ich fürchte, das war die erste und letzte Expedition«, sagte jemand.
    Benjamin drehte sich um. Abigale trat auf ihn zu, gefolgt von einem schmächtigen dunkelhaarigen Mann mit Farbflecken im Gesicht und an den

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